Süddeutsche Zeitung

Brexit:Niemand weiß mehr, wohin die Reise geht

  • Am Freitag droht Großbritannien der ungeregelte Brexit - und ob es doch nochmal einen Ausweg gibt, dazu will niemand eine Prognose wagen.
  • Premierministerin May will einen Deal, egal welchen.
  • Sie scheint nicht daran zu denken, zurückzutreten. Dennoch könnten ihre Tage bald gezählt sein.

Von Cathrin Kahlweit, London

Es gab ja in den vergangenen Wochen schon mehr als genug Verwirrung in London, aber in den letzten Tagen vor der Deadline, die Brüssel den Gesprächspartnern in London gesetzt hat, weiß niemand mehr, wohin die Reise geht. Nicht nur äußert sich die Premierministerin habituell nicht über ihre Pläne, falls sie welche hat; am Montag kam zum politischen Chaos noch die unterschiedliche Zielsetzung zahlreicher Chaostheoretiker hinzu.

Da sind zum einen die Revolutionäre der European Research Group (ERG), der Hardliner bei den Tories. Sie wollen, dass Theresa May gehen muss, sollte sie eine Lösung für den Brexit finden, der anders aussieht als ein No Deal, also ein ungeordneter Brexit. Und zwar sofort. Egal, ob die Premierministerin in den verbleibenden zwei Tagen vor dem EU-Gipfel am Mittwoch einen Deal mit Labour auf den Tisch legt, der einer Zollunion ähnelt und einen weichen Ausstieg aus der EU ermöglichen würde - oder ob sie eine lange Verschiebung des Austritts aus der EU aushandelt, um weiter innerbritisch sondieren zu können. Beide Versionen sind Teufelszeug in den Augen der ERG.

Einige Parteikollegen wollen das Misstrauensvotum für ungültig erklären lassen

Die Gruppe versucht derzeit auf obskure Weise, die Premierministerin loszuwerden. Nach den Statuten der Tory-Partei darf die Parlamentsfraktion nur einen Misstrauensantrag im Jahr stellen. Das hat sie, auf Betreiben der Hardliner, vergangenen Dezember getan. Es ging schief. May könnte nun theoretisch ein Jahr lang nicht von ihren eigenen Leuten gefeuert werden. Eine kleine Gruppe besonders aufgeregter Männer will nun aber versuchen, das Misstrauensvotum vom Dezember für ungültig erklären zu lassen, so wie man einst eine Ehe für ungültig erklären lassen konnte. Denn May habe alle hinters Licht geführt, sagen sie; sie sei eine heimliche Remainerin und wolle Übles für das Land.

Sollte dieses Verfahren, wofür einiges spricht, nicht funktionieren, planen die Herren rund um Mark Francois und Andrew Bridgen, eine Reihe "indikativer Voten" in der Fraktion durchzuführen - ebensolche, wie sie das Parlament in den vergangenen Wochen sehr zum Missfallen der ERG auf der Suche nach einer gemeinsamen Lösung durchgeführt hatte. Danach soll, so der Plan, das Votum in jedem Fall so ausfallen, dass May aufgefordert wird zu gehen.

Mays Tage könnten tatsächlich gezählt sein, auch wenn sie gar nicht daran denkt zu gehen. Sie will einen Deal, ziemlich egal, welchen. Derzeit werden zwei Optionen gehandelt, die sie verfolgt, und die britische Presse wird nicht müde zu betonen, dass es May egal sein dürfte, welche von ihnen klappt: Sie wolle einfach einen Sieg. Ein Ende. Einen Brexit.

Brexit könnte also ab sofort heißen, dass sie sich mit Labour auf ein Zollarrangement einigt, das nicht Zollunion heißen darf, weil sie eine Zollunion bisher immer ausgeschlossen hatte. Brexit-Schattenminister Keir Starmer hatte am Montag erstaunlich optimistische Signale gesendet; man rede schon über Details, schicke Memoranden hin und her. Nach Insiderberichten soll Labour der Regierung die Hand bei der Ausformulierung eines Deals führen, dem dann beide Fraktionen zustimmen sollen.

Unstrittig sei, so heißt es, die Einigung auf das Beibehalten europäischer Standards bei Arbeitnehmerrechten und Nahrungsmitteln. Umstritten sei aber nach wie vor die Frage eines zweiten Referendums, das mittlerweile den Titel "Bestätigungsreferendum" bekommen hat, weil die Briten damit einen etwaigen Deal bestätigen oder aber verwerfen könnten. Nicht in trockenen Tüchern ist auch die Zollunion, weil May nach wie vor nicht davon abrücken will, dass das Königreich eigene Freihandelsabkommen abschließen darf.

Egal, wie May sich entscheidet. Ihre Partei wird ihr keinesfalls verzeihen

Die Kernfrage indes, sollte es denn zu einer Einigung kommen, lautet: Würden beide Fraktionen überhaupt mitspielen? Die ERG, siehe oben, würde nicht. Die Remainer bei den Tories würden vielleicht in den sauren Apfel beißen. Ein massives Problem hätte Labour-Chef Jeremy Corbyn gleichwohl. Ein Teil seiner Fraktion möchte gar keinen Brexit. Ein anderer will einen reinen. Es kann also alles schiefgehen, selbst wenn es eine Einigung der Parteispitzen gäbe. Deshalb hält sich May die Verschiebung des Brexit um drei Monate offen und könnte, falls sich die EU darauf nicht einlässt, mit einer sehr viel längeren Verschiebung aus Brüssel nach Hause kommen. Darüber will sie am Dienstag in Berlin und Paris diskutieren. Viele Beobachter halten das derzeit für die wahrscheinlichste Lösung.

In der politischen Blase von London gibt es nur eine Gewissheit: Egal, ob May den Brexit bis auf Weiteres verschiebt oder mit Corbyn gemeinsame Sache macht und eine Zollunion beschließt - sie würde in beiden Fällen umgehend gestürzt. Denn ihre Partei würde ihr beides nicht verzeihen.

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SZ vom 09.04.2019/bepe
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