Brexit:London fragt sich verzweifelt: Was nun?

Brexit: Ist es das wert? Der Brite Steve Bray protestiert seit dem Brexit-Votum praktisch täglich gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU.

Ist es das wert? Der Brite Steve Bray protestiert seit dem Brexit-Votum praktisch täglich gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU.

(Foto: AFP)
  • Die für Dienstag geplante Brexit-Abstimmung im britischen Parlament könnte verschoben werden.
  • Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Premierministerin May die Mehrheit der 650 Parlamentarier hinter sich bringt.
  • Ihre Kritiker fordern, dass sie das Austrittsabkommen in Brüssel nachverhandelt - wozu die EU kaum bereit sein dürfte. Es gibt auch Überlegungen zu einem zweitem Brexit-Referendum.

Von Cathrin Kahlweit, London

Ganz Großbritannien starrt derzeit auf das Unterhaus in London, wo am Dienstagabend um 19 Uhr britischer Zeit über den Austrittsvertrag zwischen der EU und Großbritannien abgestimmt werden soll. Allein: Am Wochenende sah es so aus, als würde die Abstimmung womöglich nicht stattfinden. Was seit Tagen kolportiert wurde, verdichtete sich am Sonntag: Die Niederlage für die Regierung von Theresa May könnte so krachend ausfallen, dass ihr Kabinettsmitglieder und Tory-Abgeordnete dringend rieten, das Votum zu verschieben.

Umstritten ist vor allem der sogenannte Backstop, eine Auffanglösung für den Fall, dass sich Brüssel und London nach dem Brexit nicht während der anschließenden Übergangsphase auf einen Handelsvertrag einigen können. Da das als ziemlich wahrscheinlich gilt, würde Nordirland danach erst einmal weit enger an die EU angebunden bleiben als der Rest des Landes, um eine harte Grenze auf der Insel zu vermeiden. Die Gegner eines Backstops befürchten, dass sich dies zu einer Dauerlösung entwickeln könnte und fordern von der britischen Regierung, in Brüssel das Recht auf einen einseitigen Ausstieg aus dem Backstop herauszuverhandeln. Dass die EU eine solche Konzession macht, gilt als höchst unwahrscheinlich. Mitglieder der Verhandlungskommission, die von Michel Barnier geleitet wird, sagen, man werde London möglicherweise darin entgegenkommen, dass der tatsächliche Brexit, der für den 29. März 2019 geplant ist, um maximal drei Monate verschoben werde. Am Text für den Austrittsvertrag werde nichts mehr geändert, höchstens am Wortlaut der politischen Erklärung über die künftigen Beziehungen nach dem Brexit.

Die endgültige Entscheidung über die Abstimmung im Unterhaus soll erst an diesem Montag fallen, allerdings sieht kaum jemand in Whitehall einen Weg, ohne Nachverhandlungen eine Mehrheit unter den insgesamt 650 Parlamentariern zu bekommen. Die nordirische DUP, die May im Unterhaus seit der Wahl 2016 eine Mehrheit verschafft, hat angekündigt, gegen das Abkommen zu stimmen, ebenso die schottische Nationalpartei SNP. Die Labour-Abgeordneten lehnen den Deal ganz überwiegend ab, und, was für May am verheerendsten ist, auch knapp 100 konservative Abgeordnete haben angekündigt, sie würden gegen die eigene Regierung stimmen. Arithmetisch kann May also das Votum nicht gewinnen - obwohl sie seit der Einigung mit Brüssel nichts unversucht gelassen hat, das Parlament und das Land davon zu überzeugen, dass ihr Deal der einzig gangbare Weg sei.

May droht eine dramatische Niederlage

Die Frage, die nun in London mit einiger Verzweiflung verhandelt wird, lautet indes: Was nun? Was kann und soll geschehen, wenn das Parlament nicht, wie vorgesehen, den Vertrag abnickt? Wird Brüssel bereit sein nachzuverhandeln? Gibt es im Unterhaus mittlerweile eine Mehrheit für ein zweites Referendum oder für ein Misstrauensvotum? Alles, aber auch alles ist ungewiss. Die Sonntagszeitungen waren sich nur darin einig, dass May es nicht wagen werde, sehenden Auges in eine dramatische Niederlage zu gehen.

Die Times berichtet, Kabinettsmitglieder hätten die widerstrebende May, die offiziell bisher noch am Abstimmungstermin festhält, davon überzeugt, sie müsse in Brüssel einen so genannten Handtaschen-Moment haben, was sich an die legendären Handtaschen der ebenso legendären ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher anlehnt und meint, dass May die EU mit einer entschiedenen Geste zu Nachverhandlungen auffordern müsse.

Derweil basteln zahlreiche Politstrategen im Unterhaus an alternativen Lösungen dafür, wie eine Regierungskrise verhindert werden kann. Am Dienstagmorgen dürften einige Anträge eingebracht werden, die unter anderem vorsehen, dass die Abgeordneten der Regierung aufgeben, auf keinen Fall ohne Deal aus der EU auszutreten, aber auch den aktuellen Deal nicht zur Abstimmung vorzulegen. Zeitgleich gibt es, über die Parteien hinweg, intensive Verhandlungen über ein zweites Referendum zum Brexit. Vielen erscheint das derzeit als letzter Ausweg aus dem Chaos.

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