Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Der große Irrtum der Brexit-Befürworter

Über Jahrhunderte hinweg übten die Briten Einfluss in der Welt aus. Doch jetzt ist ihnen ihr historisches Gespür abhanden gekommen.

Kommentar von Stefan Kornelius

Niemand muss den Briten ihre Geschichte erklären. Die kennen sie selbst sehr genau. Das aus der Historie gespeiste Selbstvertrauen war über viele Jahrzehnte, gar Jahrhunderte eine wichtige Kraft für Modernisierung und zum Antrieb der Nation. Aus der Geschichte leitete sich politische Überlegenheit ab und die Rolle als Vorbild.

Heute aber fühlt sich die Geschichte schwer an. Großbritannien ist verzagt und kleinmütig. Den Briten ist ihr historisches Gespür abhanden gekommen, die Fähigkeit zur Selbstbetrachtung von außen, der Blick für die eigene Bedeutung.

Hätte sich das Land die Sendungsgabe bewahrt - es würde eine Brexit-Debatte nicht führen. Es würde erkennen, dass die Europäische Union mit Großbritannien in ihrer Mitte die zwingende Fortsetzung einer Weltpolitik ist, die das Königreich England und das Königreich Schottland seit ihrem Vereinigungsgesetz im Jahr 1707 betrieben haben.

Großbritannien war niemals ein insulares Gebilde. Sein Schicksal war immer eng mit den Machtverhältnissen auf dem Kontinent verknüpft. Ein Earl Stanhope balancierte meisterlich die Interessen der Krone. Europäische Gleichgewichtspolitik war eine britische Erfindung, nicht nur in der Zeit der Aufklärung, sondern auch nach dem Wiener Kongress.

Die Briten mussten das europäische Mächtegefüge wahren, um ihre Interessen als Handelsnation durchzusetzen. Hier liegt die zweite große Begabung, die das Land durch die EU zur Geltung bringen kann: Das Gründungsmotiv des britischen Empire war der Handel, der blanke merkantilistische Trieb. Wer Privilegien verteilt, Rechte verwaltet, Monopole bewacht, der lenkt und herrscht.

Churchill, Virtuose der Macht

Selbst die mehr oder weniger kontrollierte Auflösung des Empire, der Übergang zum Commonwealth, nahm die Ideen vorweg, die später in der EU praktiziert wurden. Die Dominion-Staaten trafen sich alle paar Jahre zur Reichskonferenz, ihre Premierminister formten das "Kabinett der Kabinette". Heute würde man sagen: Es traf sich der Rat.

Schließlich und selbstverständlich: Winston Churchill, den man nicht zum romantisierenden Europäer abstempeln sollte, nur weil er in seiner Zürcher Rede am 19. September 1946 das vereinte Europa erfand. Nein, naiv war Churchill nicht, er war ein Virtuose der Macht, dem sein Biograf Roy Jenkins völlig zu Recht Valéry Giscard d'Estaing, Helmut Schmidt, François Mitterrand und Helmut Kohl als Erbnehmer an die Seite stellt.

"Alle Bewegung auf der Erde geht in Richtung wechselseitiger Abhängigkeit der Staaten", mahnte Churchill und prophezeite seinem Land, dass es in allen Institutionen des Westens eine besondere Rolle spielen könnte. Könnte - "wenn es sich denn würdig erweist", orakelte Churchill.

Die düstere Ahnung des Premiers erfüllt sich heute, wo seine Nachfolger offenbar die simpelste Lektion der britischen Geschichte vergessen haben: Alleine bist du nichts, nur gemeinsam bist du stark. Alleine aber wollen sie sein, die Austrittsfreunde, weil sie sich seltsamerweise ausmalen, Britanniens Einfluss auf die Welt und in der Welt stiege, wenn das Land von den Fesseln der EU befreit wäre.

Narzisstische Verzückung der Austrittsbriten

Diese Leave-Now-Bewegung sitzt einem fundamentalen Irrtum auf, und sie begeht eine außenpolitische Todsünde. Der Irrtum: Großbritannien würde als einzelne Nation eine gewichtige Rolle in der Welt spielen. Diese Vermutung ist falsch, London fehlt es an Gewicht und Einfluss, der sich nur im Verbund von gleichgesinnten Staaten ergibt.

Europa wird überhaupt nur ernst genommen, etwa von den vibrierenden Volkswirtschaften entlang des Pazifiks und des Indischen Ozeans, weil es als gemeinsamer Markt mit einer Stimme spricht. Europa kann sich den autoritären Anfechtungen von seiner Peripherie nur erwehren, wenn nicht jede Nation für sich alleine steht.

Die Todsünde: Den Austrittsbriten ist die Welt egal, es interessiert sie nicht einmal der Kollateralschaden, den sie anrichten könnten. In narzisstischer Verzückung fragen sie nach ihren Vorteilen, ihren Sonderregeln, ihren Wünschen. Sie sehen nicht, welche Verantwortung einhergeht, wenn man Mitglied im Klub ist.

Keine andere Nation in Europa hat die Geopolitik so stark verinnerlicht. Keine Nation hat drei, vier Jahrhunderte lang Erfahrung sammeln können in der ultimativen Aufgabe, die auch eine europäische Politik erfüllen muss: Wohlstand und Frieden zu wahren.

Doch seltsam: Die Welt spielt keine Rolle im Brexit-Geschrei. Es wird gelogen, es wird gebogen, und die Rolle der EU wird ins Groteske deformiert. Gar so, als wäre das Land eine Insel, ein Zuschauer, der keinen Anteil an der Weltpolitik hält. So geschichtsvergessen waren die Briten selten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3022654
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.06.2016/gal
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.