Brexit-Abstimmungen im Unterhaus:Johnson verliert zweimal - und könnte doch gewinnen

Lesezeit: 4 min

  • Das Unterhaus verabschiedet gegen den Willen von Boris Johnson ein Gesetz, was den No-Deal-Brexit verhindern soll.
  • Seine Forderung nach Neuwahlen findet nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit.
  • Bei Neuwahlen, die auch die Opposition nach der Unterzeichnung des Anti-No-Deal-Gesetzes unterstützen könnte, sieht es für Johnson gar nicht so schlecht aus.

Von Cathrin Kahlweit, London

Boris Johnson nannte das Gesetz, das ihn seine Mehrheit im Parlament kostete und das ihn zum Schluss womöglich das Amt kosten könnte, am Mittwoch immer nur das "Unterwerfungsgesetz". Er wiederholte das Wort im Unterhaus so oft, dass es sich einnisten musste in den Köpfen der Zuschauer, und er spuckte das Wort, "surrender bill", so laut und so wütend in den Raum, dass schnell klar war, dies würde sein Thema, sein Dreh, sein Slogan für die nächsten Wahlen sein: Die Opposition, würde er im Wahlkampf wieder und wieder sagen, habe ihn, unterstützt von den Abweichlern aus den eigenen Reihen, an die EU ausgeliefert und seinen unmittelbar bevorstehenden Erfolg mit einem Kniefall vor Brüssel zunichte gemacht.

Die Wahrheit sieht allerdings anders aus. Aber im Wahlkampf ist Wahrheit eine kleine Münze. Denn es gibt keinen nachweisbaren Fortschritt in den Verhandlungen mit Brüssel. Die Opposition hielt Johnson während der aktuellen Fragestunde des Premiers am Mittwoch ein Dutzend Mal vor, er solle doch seine tollen, neuen Vorschläge endlich präsentieren, mit denen er nach eigenem Bekunden in Brüssel auf so viel Interesse gestoßen war. Johnson ignorierte diese Fragen, stattdessen wütete er einmal mehr gegen das "Unterwerfungsgesetz" der "Antidemokraten", die dem Volk den Brexit vorenthalten wollten.

Hilary Benn
:Rebell wider Willen

Der Labour-Abgeordnete gehört zu den Initiatoren des Gesetzes gegen den "No Deal"-Brexit - und was er tut, gilt in London schon als Rebellion. Das passt eigentlich gar nicht zu dem linksliberalen Benn.

Von Cathrin Kahlweit

Diese Parlamentswoche hat schon jetzt einiges grundlegend verändert

Tatsächlich hatten am späten Dienstagabend 328 Abgeordnete den Weg frei gemacht für ein Gesetz, das am Mittwoch eingebracht und noch am selben Abend beschlossen wurde. Geht es auch im britischen Oberhaus durch, sind Johnson gegenüber dem Unterhaus in den kommenden Wochen die Hände gebunden. Bringt er bis zum EU-Gipfel Mitte Oktober einen Deal zustande, ist alles gut. Wenn nicht, muss er in Brüssel eine weitere Brexit-Verschiebung bis zum 31. Januar 2020 erbitten. Johnson hat das bislang kategorisch ausgeschlossen, und dabei blieb er auch am Mittwochabend. Stattdessen beantragte er Neuwahlen für den 15. Oktober, die das Parlament aber noch am Mittwochabend ablehnte.

Showdown in Westminster: Pro-europäische Demonstranten protestieren vor dem Londoner Unterhaus gegen den Brexit-Kurs der Regierung Johnson. (Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP)

Diese Parlamentswoche hat schon jetzt vieles grundlegend verändert in der britischen Politik. Doch nur, wenn das angenommene Gesetz gegen einen harten Brexit ohne Deal ganz zum Schluss, womöglich erst am Montag, auch die Zustimmung der Queen bekommen würde, hatte Labour verkündet, werde man gegen Johnson in den Wahlkampf ziehen. Keinen Tag früher solle es eine Zustimmung zu Neuwahlen geben, so Oppositionsführer Jeremy Corbyn, als dass das No-Deal-Verhinderungsgesetz in Kraft ist. Denn die Opposition traut Johnson alles zu - auch, dass er die Gesetzgebung verschleppen lässt und Verfahrenstricks anwendet, damit der gesamte Prozess durch die - nächste Woche beginnende - Zwangsauflösung des Parlaments unabänderlich gestoppt wird.

Und so scheiterte Johnson mit seinem Plan, umgehend Neuwahlen zu erzwingen. Wie seine Berater und er darauf reagieren würden, ob er noch ein Ass im Ärmel hat, was er in den kommenden Tagen tun, ob er über einen Umweg - einen Misstrauensantrag gegen sich selbst etwa - den Lauf der Dinge noch ändern will - nichts war nach diesem chaotischen Tag gewiss. Viele Beobachter in Westminster mutmaßen, Johnson habe einen heimlichen Plan. Vorerst aber sieht es so aus, als sei seine Macht geschwächt und damit seine Handlungsfreiheit eingeschränkt. Schließlich hatte er in der Nacht zum Mittwoch einen radikalen Schnitt gemacht und 21 hochrangige und prominente Abgeordnete aus der Partei werfen lassen, die mit der Opposition für die Behandlung des Gesetzes gestimmt hatten. Somit ist Johnson nunmehr zwar Chef einer Minderheitsregierung - und eben auch Chef einer Partei, die ein Ziel hat: den Brexit, komme, was wolle.

Das radikale Vorgehen gegen die Parteifreunde und No-Deal-Kritiker war präzedenz- und stillos; viele Abgeordnete hatten von ihrem Rauswurf per SMS gehört. Aufgebracht waren die Rebellen in der Tory-Partei, darunter zahlreiche ehemalige Minister, auch darüber, dass sie von ihrer Partei abgestraft wurden, während im aktuellen Kabinett ein halbes Dutzend Minister sitzen, die in der Vergangenheit häufig gegen ihre Regierung gestimmt hatten. Hier werde mit zweierlei Maß gemessen, sagte der frühere Finanzminister Philip Hammond, der zu den Wortführern der Rebellion gehört.

Als das Parlament am Mittwochmittag zusammentrat, saßen die 21 Ex-Tories nach wie vor auf ihren angestammten Plätzen links vom Parlamentssprecher. Allerdings blendete das Parlamentsfernsehen bei ihren Wortmeldungen als Parteizugehörigkeit richtigerweise "unabhängig" ein, was bei vielen Konservativen Wehmut und Angst auslöste: Wohin würde dieser Premier diese Partei noch führen? Eine Abgeordnete, die bis Dienstag noch Teil der Fraktion gewesen war, brachte es auf den Punkt: Wann, fragte sie mit bebender Stimme, werde Johnson die Macht seiner Berater eingrenzen und wieder auf seine Minister hören?

"Komm, Jeremy, lass uns in Neuwahlen gehen, sei kein Angsthase."

Dominic Cummings ist der Berater, auf den sie anspielte; er gilt als Mastermind hinter dem Rauswurf der Johnson-Kritiker und dem No-Deal-Fahrplan der Regierung. Er soll, sagen mehrere Augenzeugen, nach der ersten Abstimmungsniederlage von Johnson am Dienstag zufällig in angetrunkenem Zustand auf Labour-Chef Jeremy Corbyn gestoßen sein und diesen lautstark herausgefordert haben: "Komm, Jeremy, lass uns in Neuwahlen gehen, sei kein Angsthase."

Johnson hat, wie angekündigt, diese Neuwahlen nach seiner Niederlage am Mittwoch umgehend beantragt. Corbyn hatte er bereits zuvor bezichtigt, sich einem Urnengang aus Angst vor der Wut der Wähler zu entziehen. Die Opposition könnte versuchen, den Neuwahl-Termin vor den 31. Oktober zu legen, um No Deal unter einem neuen Premierminister noch stoppen und mit Brüssel erneut in Verhandlungen treten zu können. Aber auch ein Wahltermin erst im November wird diskutiert. Sollte Johnson sich mit seinen Plänen doch noch durchsetzen, hätte er gute Chancen, diese Wahlen zu gewinnen - was seine aktuelle Konfrontationstaktik erklären könnte. John Curtice, ein renommierter Wahlforscher vom Institut "What UK thinks", sieht die Chancen auf einen Sieg Johnsons bei etwa 50 Prozent. Wie heißt es doch in der BBC zur Zeit noch viel häufiger als in den vergangenen drei Jahren: "Wir befinden uns in völlig unbekannten Gewässern."

© SZ vom 05.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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