Brexit:Welcher Ausweg bleibt Johnson?

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Die letzte Sitzung vor der Zwangspause des Unterhauses endet mit Tumulten und Anfeindungen. Jetzt spekulieren die Briten, wie der Premierminister aus dem Brexit-Dilemma kommen will, ohne sein Gesicht zu verlieren.

Von Thomas Hummel

Wer noch nicht wusste, wie sehr die Brexit-Frage Großbritannien aufwühlt, der musste nur die Parlamentssitzung in der Nacht von Montag auf Dienstag beobachten. Die "Lady Usher of the Black Rod" - die Vertreterin der Königin im Oberhaus - erschien, um Sprecher John Bercow abzuholen und mit ihm im Oberhaus die umstrittene Parlamentspause von Premierminister Boris Johnson zu fixieren. Daraufhin hielten Oppositionspolitiker Zettel mit der Aufschrift "silenced" - zum Schweigen gebracht - hoch. Ein Abgeordneter warf sich auf Bercows Schoß, um ihn daran zu hindern, den Saal zu verlassen. Ordner mussten eingreifen.

Bercow erklärte, dies sei keine normale Aussetzung des Parlaments, wie von der konservativen Regierungspartei suggeriert. Sie sei von Premierminister Boris Johnson eingesetzt, um ohne Gegenwehr durchregieren zu können. Der Sprecher wurde damit wieder einmal zum Helden der Opposition im Kampf gegen die Regierung. Die Opposition vermutet, Premier Johnson wolle das Land ohne Austrittsvertrag ("No Deal") aus der Europäischen Union führen. Als die konservativen Abgeordneten den Saal verließen, hallten "Shame on you!"-Rufe (Schämt euch!) von der anderen Seite.

Unterhaussprecher John Bercow
:Mister Speaker verlässt den Thron

Seine "Order, order"-Rufe sind längst Kult, seine Amtsführung durchaus umstritten: John Bercow tritt als Sprecher des britischen Parlaments zurück. Er kommt damit einer parteiinternen Machtprobe zuvor.

Von Cathrin Kahlweit

Es war 1.24 Uhr in London, Johnson war bereits weg. Er hatte zuvor wieder zwei Abstimmungen verloren. Erstens muss die Regierung Erkenntnisse veröffentlichen, welche Folgen ein No Deal für das Land hätte. Zweitens wurde sein Ansinnen auf schnelle Neuwahlen abermals abgelehnt.

Und so rätselt das Land und mit ihm die Nachbarn in Europa, welchen Plan Johnson verfolgt. In dieser letzten Parlamentsdebatte vor der Suspendierung bis zum 14. Oktober wiederholte er, dass seine Regierung bei der EU nicht um eine Verschiebung des Brexit-Datums ersuchen werde. Tage zuvor hatte er erklärt, er würde eher "tot im Graben liegen" als das zu tun. Dabei hatte das Parlament am Freitag ein Gesetz verabschiedet, dass ihn genau dazu zwingen würde, sollte er bis zum 19. Oktober keinen bindenden Austrittsvertrag zustande bringen. Was hat Johnson vor? Welche Möglichkeiten bleiben ihm, um sein Versprechen zu halten?

Neuer Austrittsvertrag mit neuem Backstop

Es war auch Johnsons Gegenstimme, die dazu führte, dass der ausgehandelte Vertrag von Ex-Premierministerin Theresa May und der EU damals nicht durchs Unterhaus kam. Johnson will nun Änderungen erreichen, vor allem den Backstop für die irische Insel verhandeln. Zur Erinnerung: Der Backstop soll verhindern, dass zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland eine feste Grenze installiert werden muss. Die Gefahr von gewalttätigen Unruhen wie in den 1980er Jahren und früher ist allgegenwärtig. Solange sich Großbritannien und die EU in der Nach-Brexit-Frage nicht auf einen neuen Handelsvertrag einigen, der Kontrollen überflüssig macht, müsste Nordirland wirtschaftlich im Binnenmarkt der EU verbleiben und Großbritannien in der Zollunion. Die Brexit-Befürworter wollen das nicht.

Die stets herumgeisternden "technologischen Alternativen", um Grenzkontrollen ohne Schlagbaum durchzuführen, sind längst nicht so weit gediehen, um eine komplett offene Grenze zu garantieren. Deshalb bringt Johnson offenbar einen Backstop ins Spiel, der allein für Nordirland gilt und den Rest Großbritanniens aus der Zollunion entlässt. Eine Idee, der Nachbar Irland und damit die EU sofort folgen könnten, hätte Johnson nicht einen Fallstrick eingebaut: Diese Lösung müsse einer demokratischen Kontrolle der Menschen Großbritannien unterliegen, sagte er.

Die Interpretation: Sollten die verbleibenden 27 EU-Länder künftig Regeln des Binnenmarktes verändern wollen, müsste Großbritannien jedes Mal zustimmen. Niemand in der EU kann das wollen.

Zudem ist äußerst ungewiss, ob Johnson so einen Deal durch das Unterhaus bringen kann. Denn der Plan würde Kontrollen in der Irischen See, also zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens, erzwingen, was von der Demokratic Unionist Party (DUP) Nordirlands vehement abgelehnt wird. Auch bei den Konservativen gibt es viele, denen die Einheit des Königreichs über alles geht.

Zwei Briefe nach Brüssel

Sollte die Regierung Johnson auf dem EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober in Brüssel keinen neuen Austrittsvertrag erreichen, muss sie dem Gesetz gegen den No Deal zufolge einen Tag später die EU um eine Verschiebung bitten. Die Zeitung The Times berichtet, dass Johnson ernsthaft überlege, für diesen Fall zwei Briefe nach Brüssel zu schicken: Einen, in dem er eine Verschiebung beantragt. Und noch einen, in dem er schreibt, dass die Regierung diese Verschiebung gar nicht will. Die EU könnte das Ansinnen dann ablehnen, so die Kalkulation.

Ein früheres Mitglied des höchsten britischen Gerichts, des Supreme Court, erklärte dazu der BBC: Er halte ein solches Vorgehen für einen Bruch des Gesetzes.

Das Gesetz ignorieren

In London kursieren seit Tagen auch Gerüchte, Johnson könnte das neue Gesetz schlichtweg ignorieren. In der anschließenden Auseinandersetzung vor Gericht und dem sogar drohenden Gang ins Gefängnis würde er zum Märtyrer und Freiheitskämpfer der Brexit-Bewegung. Doch traut sich Johnson wirklich, so weit zu gehen?

Es gilt als sicher, dass mehrere Mitglieder seines Kabinetts zurücktreten würden und auch die Austrittswelle aus der Konservativen Partei dürfte sich fortsetzen.

Rücktritt von Johnson

Bringt er keinen Deal zustande, könnte er am 19. Oktober zurücktreten. Allerdings kann Johnson nicht einfach abhauen, sondern muss die Königin um einen Rücktritt ersuchen. Queen Elizabeth II würde den Anführer der Opposition darum bitten, eine neue Regierung zu bilden. Bis dieser so weit ist, müsste Johnson im Amt bleiben.

Es erscheint sehr ungewiss, ob es dem sehr weit links im politischen Spektrum stehenden Labour-Anführer Jeremy Corbyn gelingt, genügend Unterstützung für eine neue Regierung zu finden. Sollte er es dennoch schaffen, oder gar Platz machen für eine moderatere Lösung, könnte das für Johnsons Konservative im totalen Machtverlust enden.

Doch Neuwahlen

Boris Johnson will unbedingt jetzt Neuwahlen, die Umfragen stehen günstig für ihn. So wird spekuliert, dass er am 14. Oktober einen Misstrauensantrag gegen sich selbst einbringt. Doch auch hier lauern Fallen für den Premierminister und seine Partei. Denn es könnte zu der kuriosen Situation kommen, dass ihm die Opposition mit ihrer aktuellen Mehrheit das Vertrauen ausspricht und er im Amt bleiben muss. Oder die anderen Parteien nutzen die 14-tägige Übergangsphase und bilden eine eigene, neue Regierung (siehe oben).

Ein EU-Land auf seine Seite ziehen

Nach wie vor besteht auch die Idee, man könne die EU spalten. Da der Brexit-Verschiebung alle anderen 27 Länder zustimmen müssen, würde ja ein Irrläufer reichen. Der konservative Abgeordnete und Brexit-Befürworter Daniel Kawczynski brachte dafür die Regierung seines Geburtslands Polen ins Gespräch.

Es ist ein Zeichen dafür, dass die Brexit-Hardliner ihren Einfluss immer noch überschätzen. Bislang standen die verbleibenden 27-EU-Länder im Brexit unverrückbar beisammen und auch an der Seite ihres Mitglieds Irland. Es deutet nichts darauf hin, dass ein Mitglied der EU den Ärger der anderen 26 Länder auf sich ziehen will, nur um Johnsons Truppe einen Gefallen zu tun.

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