Großbritannien:Hoffnungsschimmer für die Brexit-Verhandlungen

Brexit
(Foto: dpa)

Premier Boris Johnson ist unberechenbar und prinzipienlos. Aber gerade darin könnte eine Chance liegen, in letzter Minute doch noch ein Brexit-Abkommen mit der EU zu erreichen.

Kommentar von Alexander Mühlauer, London

Kann man Boris Johnson überhaupt noch beim Wort nehmen? Nun, leicht fällt das wahrlich nicht, schließlich schreckt der britische Premierminister vor nichts zurück, auch nicht vor der Lüge. Es geht ihm einzig und allein darum, an der Macht zu bleiben. Diesem Ziel ordnet er alles unter. Dass er seit seinem Amtsantritt die politische Kultur des Vereinigten Königreichs mit Füßen tritt, schert ihn kaum. Doch so sehr Johnson die demokratischen Institutionen auch beschädigt, es bleibt der EU nichts weiter übrig, als ihn beim Wort zu nehmen. Das mag schwerfallen, aber er ist nun einmal qua Amtes derjenige, mit dem Brüssel über das Schicksal Großbritanniens verhandeln muss.

Die EU hat es mit einem Regierungschef zu tun, dessen politischer Spielraum immer enger wird. In einer denkwürdigen Nachtsitzung hat das Unterhaus dem Premierminister einmal mehr die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Die Parlamentarier verhinderten Johnsons Plan, Neuwahlen vor dem bislang geltenden Brexit-Termin am 31. Oktober auszurufen. In der Downing Street sitzt also ein Regierungschef, der keine Mehrheit im Unterhaus hinter sich hat, und der gesetzlich dazu verpflichtet ist, einen No-Deal-Brexit zu verhindern.

Ob er sich daran hält, ist wiederum völlig offen. Immerhin: Nachdem Downing Street am Anfang dieser Woche mit dem Gesetzesbruch liebäugelte, stellte Johnson nun klar, dass er sich an Recht und Gesetz halten werde. Tut er das und nimmt er das wirklich ernst, was er bei seinem jüngsten Besuch in Dublin gesagt hat, könnte Johnson doch noch ein Deal mit der EU gelingen. Dafür müsste der Premier sich aber an das halten, was er selbst gesagt hat. Der erste Kernsatz lautet: Er liege "lieber tot im Graben", als Brüssel um einen weiteren Brexit-Aufschub zu bitten. Genau dazu wird Johnson aber gesetzlich verpflichtet sein, sollte es bis zum 19. Oktober keine Einigung mit der EU geben und er dann noch im Amt sein.

Bleibt nur Nordirland in der Zollunion?

Will Johnson also keine weitere Verlängerung des Austrittsprozesses, braucht er ein Abkommen. Und dabei kommt Johnsons zweiter Kernsatz ins Spiel: Ein Brexit ohne Vertrag wäre "ein Scheitern von Staatskunst, für das wir alle verantwortlich wären", hatte er in Dublin erklärt. Einerseits ist das natürlich eine Drohung in Richtung Brüssel; andererseits ist es ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass Johnson es noch nicht aufgegeben hat, einen No-Deal-Brexit zu verhindern. So denkt man in Downing Street etwa darüber nach, allein Nordirland in einer Zollunion mit Irland zu lassen. Ein Plan, den Theresa May einst verwerfen musste.

Zu viel sollte man auf die Worte des Premiers allerdings nicht geben. Es wäre naiv zu glauben, dass Johnson nun voll und ganz auf einen Deal hinarbeiten wird. Dafür gibt es zu viele Unwägbarkeiten. Johnson könnte auch versucht sein, bei passender Gelegenheit zurückzutreten - nach dem Motto: "Ich stehe hier und kann nicht anders." Ein anderer müsste dann in Brüssel um Verlängerung bitten. Johnson selbst könnte im nächsten Wahlkampf als eine Art Märtyrer auftreten, der den Referendumswillen des Volkes um jeden Preis vollstrecken will.

Fest steht jedenfalls: Boris Johnson ist absolut prinzipienlos - und zwar im guten wie im schlechten Sinne. Mit ihm ist alles möglich: ein Last-Minute-Abkommen oder ein Brexit-Chaos, das man sich gar nicht ausmalen mag.

Zur SZ-Startseite
John Bercow in London

Unterhaussprecher John Bercow
:Mister Speaker verlässt den Thron

Seine "Order, order"-Rufe sind längst Kult, seine Amtsführung durchaus umstritten: John Bercow tritt als Sprecher des britischen Parlaments zurück. Er kommt damit einer parteiinternen Machtprobe zuvor.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: