Brexit:Stress für Johnsons Gegner

Brexit: Protest in London: Ein Demonstrant, als Boris Johnson verkleidet, begräbt symbolisch die britische Demokratie.

Protest in London: Ein Demonstrant, als Boris Johnson verkleidet, begräbt symbolisch die britische Demokratie.

(Foto: AP)
  • Premier Boris Johnson will, dass Großbritannien die EU am 31. Oktober verlässt - ohne Wenn und Aber.
  • Seinen Gegnern bleibt nur noch sehr wenig Zeit, um das zu verhindern.
  • Versuchen können sie es zum Beispiel mit einem neuen Gesetz oder einem Misstrauensvotum.

Von Thomas Hummel

Als sich Boris Johnson am Montagabend vor der Tür seines Londoner Amtssitzes in 10 Downing Street an die britische Öffentlichkeit wandte, musste er ziemlich laut reden. "Stop the coup" - Stoppt den Putsch -, hallte die Parole von den nahen Demonstrierenden herüber. So entstand ein Sinnbild für die aktuelle Lage der britischen Politik: Der Premierminister muss fast brüllen, um gegen eine immer zorniger werdende Protestbewegung anzukommen. Doch je lauter die Gegner, desto schärfer wird Boris Johnson. "Jeder soll wissen", stellt er klar, "unter keinen Umständen werde ich Brüssel um eine Verschiebung bitten. Wir verlassen die EU am 31. Oktober ohne Wenn und Aber."

Zieht er diesen Plan durch, dann sieht es danach aus, als wollten Johnson und seine Truppe Großbritannien in einen No-Deal-Brexit führen, also dem Herausfallen des Landes aus der Europäischen Union ohne Abkommen. Denn bislang heißt es aus der EU-Zentrale in Brüssel, die Briten hätten keine neuen Vorschläge geliefert.

Die Folgen von No Deal wären unabsehbar, vor allem wirtschaftlich und für die heikle Nordirland-Frage. Aber auch die zwischen Großbritannien und der EU eng verflochtene Sicherheitspolitik wäre in Gefahr; zudem müssten Millionen EU-Bürger in Großbritannien und Briten, die weiterhin in der EU leben, um ihre Rechte bangen.

Viele Abgeordnete in London wollen das verhindern. Doch Johnson hat eine Regierungserklärung angekündigt - die in London von der Königin vorgetragene so genannte Queen's Speech -, und schickt das Parlament vom 9. September an für fünf Wochen in den Urlaub. Viele nennen das einen Putsch gegen das Parlament, denn da die Abgeordneten erst an diesem Dienstag zum ersten Mal nach der Sommerpause tagen, wird die Zeit für Johnsons Gegner, etwas gegen dessen Pläne zu unternehmen, extrem knapp. Es dürfte im seit Monaten ohnehin emotional aufgeladenen Unterhaus zu heftigen Konfrontationen kommen. Doch welche Optionen bleiben den Lagern in diesem harten Kampf um Macht und Deutungshoheit?

Gesetz gegen No Deal

Ein Bündnis der Opposition plus einiger Abweichler aus Johnsons Konservativer Partei möchte den No-Deal-Brexit per Gesetz verhindern. Dazu hat der Labour-Abgeordnete Hilary Benn einen Gesetzesentwurf vorbereitet (die so genannte "Benn-Bill"). Demnach darf Großbritannien am 31. Oktober nur dann ohne Deal aus der EU austreten, wenn das Parlament zustimmt (was es bislang nie getan hat). Falls Boris Johnson bis zum 19. Oktober keinen neuen Deal mit der EU zustande bringt, der vom Unterhaus akzeptiert wird, muss er die EU um eine weitere Verschiebung des Austrittsdatums bis zum 31. Januar 2020 bitten. Die EU müsste dieser Verschiebung zwar zustimmen. Doch das dürfte wie bisher kaum ein Problem darstellen - die Europäer wollen auf keinen Fall verantwortlich für einen No-Deal-Brexit sein.

Johnson wetterte am Montag gegen so ein Gesetz: Es würde der britischen Verhandlungsposition die Beine wegschlagen. Dieser Zusammenhang ist allerdings umstritten, denn Großbritannien würde unter einem No-Deal-Brexit wesentlich mehr leiden als die EU. Dennoch bleibt Johnsons Hardliner-Team bei dieser Hypothese. Und Johnson erhöht den Druck auf die Abweichler in der eigenen Partei, denen er sogar mit Parteiausschluss droht.

Um das Gesetz durchzubringen, müssen die Befürworter extrem schnell handeln. An diesem Dienstag muss zunächst das Parlament die Hoheit über die Tagesordnung erringen. Denn diese muss geändert werden. Unterhaus-Sprecher John Bercow muss die Abstimmung zulassen und dann muss eine Mehrheit der Abgeordneten auch dafür stimmen. Schon hier entscheidet sich, ob der Plan der Johnson-Gegner eine Chance hat. Anschließend müsste sofort der Gesetzgebungsprozess eingeleitet werden, denn das kann in Großbritannien ein zäher Vorgang sein.

Es bedarf zunächst zweier Lesungen im Unterhaus, eine davon mit Debatte. Alle Abgeordneten dürfen Änderungsanträge einbringen, nach einer dritten Lesung wird abgestimmt. Danach geht der Entwurf ins House of Lords, dem britischen Oberhaus, auch dort können Änderungsanträge eingebracht werden. Anschließend kehrt der Entwurf wieder zurück ins Unterhaus. Stimmt dort wieder eine Mehrheit dafür oder hatte das Oberhaus keine Änderungswünsche muss noch die Königin das Gesetz billigen, was allerdings Formsache ist.

Angesichts der knappen Zeit und der vielen Möglichkeiten, den Prozess zu verschleppen und zu zerpflücken, ist große Eile geboten. Eigentlich tagt das Parlament weder freitags noch samstags, doch auch das können die Parlamentarier mit einer Mehrheit ändern. Nur wenn alles nach Plan läuft, geht das Gesetz am 9. September durch, dem Tag bevor Johnson das Parlament in Zwangsurlaub schickt.

Misstrauensvotum

Sollte das Gesetzgebungsverfahren scheitern, bleibt Johnsons Gegner eine weitere Option: ein Misstrauensvotum gegen die Regierung. Da die Koalition aus Konservativen und nordirischen Unionisten keine Mehrheit mehr im Unterhaus hat (Während der Premier am Dienstag zu den Abgeordneten sprach, wechselte ein Tory die Seiten), stehen die Chancen der Opposition gut, ein solches Votum zu gewinnen. Danach würde ein 14-tägiges Fenster aufgehen, in dem das Unterhaus eine neue Regierung wählen könnte. Theoretisch wäre es etwa möglich, dass Labour-Chef Jeremy Corbyn daraus als neuer Premier hervorginge, sollten sich tatsächlich die gesamten Oppositionsparteien plus ein paar Rebellen der Konservativen darauf einigen. Das gliche einer Revolution, weil Corbyn politisch sehr weit links steht und für die Konservativen regelrecht ein Feindbild darstellt.

Gibt es nach einem Misstrauensvotum nach 14 Tagen noch keine Regierung, kommt es zu Neuwahlen. Da Johnson dann weiterhin eine Art Interims-Premier bliebe, dürfte er das Datum der Wahlen festlegen. Bei einem Termin nach dem 31. Oktober, fiele Großbritannien dann praktisch ohne Entscheidung per No Deal aus der EU.

Schnelle, vorgezogene Neuwahl

Sollte ihn das Unterhaus per Gesetz stoppen, hat Boris Johnson die Möglichkeit, eine so genannte Snap election auszurufen - eine schnelle, vorgezogene Neuwahl. Beim britischen Sender BBC heißt es, eine solche Snap election könnte am 14. Oktober stattfinden. Dazu müssen allerdings zwei Drittel der Abgeordneten im Unterhaus zustimmen, also auch ein guter Teil der Opposition.

Da Johnson derzeit ein Milliardenprogramm für zusätzliche Investitionen ankündigt, glauben manche Beobachter, er sei ohnehin schon im Wahlkampf. Am Mittwoch soll Schatzkanzler Sajid Javid konkretisieren, wieviel Geld für innere Sicherheit, für das staatliche Gesundheitssystem NHS und für eine Bildungsoffensive ausgegeben werden soll. Damit bricht Johnson mit der Sparpolitik seiner konservativen Vorgänger.

Wer aus schnellen Neuwahlen als Sieger hervorgehen würde, ist äußerst ungewiss. Johnson präsentiert sich gerade als Hardliner und holt so wohl Wähler von der neuen Brexit-Partei von Nigel Farage zurück, die bei der Europawahl im Mai 30,5 Prozent der Stimmen erhielt. Andererseits gewinnen vor allem die Liberaldemokraten, die sich gegen den Brexit aussprechen, oder die Schottische Nationalpartei derzeit an Zustimmung.

Doch kleineren und mittleren Parteien stellt das britische Wahlsystem hohe Hürden in den Weg: Nur wer in einem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält, darf einen Abgeordneten ins Unterhaus schicken. Und eine zersplitterte Opposition aus Labour, Liberalen und Grünen spielt den Konservativen in die Hände. Deshalb warnte am Montag der ehemalige Premier Tony Blair seine Labour-Kollegen, das Ansinnen Johnsons auf schnelle Neuwahlen sei eine "Elefantenfalle".

Neues Abkommen mit der EU

Johnson spricht stets davon, dass er die EU mit einem Abkommen verlassen wolle und die Verhandlungen darüber mit Brüssel sehr gut liefen. Leider weiß die EU nichts davon.

Londons Regierung will vor allem den "Backstop" aus der Vereinbarung streichen, eine Versicherung, dass zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Land Irland keine physische Grenze installiert werde. Dazu müsste Großbritannien so lange in einer Zollunion mit der EU verbleiben, bis ein anderes Handelsabkommen geschlossen ist. Vor allem die Iren bestehen darauf und werden von den anderen EU-Länder darin unterstützt.

Die von konservativen Brexiteers propagierten technischen Lösungen wurden oft besprochen, reichen aber für das Bedürfnis der irischen Insel nach einer völlig "grünen" Grenze nicht aus. Ex-Schatzkanzler Philip Hammond, einer der prominentesten innerparteilichen Gegner Johnsons, zweifelte in einem TV-Interview an der Redlichkeit des Premiers: Es gebe aktuelle nicht einmal ein Verhandlungsteam der britischen Regierung in dieser Sache.

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