Für die größte Aufregung in London sorgte am Mittwoch mal wieder Boris Johnson, obwohl der Außenminister Tausende Kilometer von der britischen Hauptstadt entfernt weilte. Während einer Dienstreise nach Indien wurde er gefragt, was er von Kommentaren eines Sprechers des französischen Präsidenten François Hollande halte, denen zufolge Großbritannien nicht glauben solle, es werde durch den Austritt bessere Handelsbeziehungen zur EU haben. Johnson ist für sein loses Mundwerk bekannt, weshalb es eine große Überraschung war, dass Premierministerin Theresa May ihn vor einem halben Jahr zum obersten Diplomaten des Landes machte. Nun sagte Johnson: "Wenn Monsieur Hollande jeden nach Art eines Zweiter-Weltkrieg-Films bestrafen will, der die Flucht wählt, dann glaube ich nicht, dass das hilfreich ist."
In London läuteten an Mays Amtssitz in der Downing Street umgehend die Alarmglocken. Nein, beeilte sich eine Sprecherin zu versichern, Johnson habe keinesfalls nahelegen wollen, dass irgendjemand sich wie ein Nazi verhalte. Der Minister habe lediglich einen "theatralischen Vergleich" gebraucht, um auszudrücken, dass die EU die Verhandlungen nicht mit der Absicht angehen solle, Großbritannien für den Austritt zu bestrafen. Ob es problematisch sei, den Zweiten Weltkrieg in diesem Zusammenhang zu erwähnen, wurde die Sprecherin gefragt. "Es gibt jedenfalls keine Regierungs-Richtlinie, den Krieg nicht zu erwähnen", sagte sie trocken.
Labour-Chef Corbyn warf May vor, die Zukunft des Landes aufs Spiel zu setzen
Seit Theresa May am Dienstag dargelegt hat, wie sie sich den Austritt aus der EU vorstellt, wird sowohl in London als auch auf dem Kontinent über ihre Aussagen diskutiert. May selbst verteidigte sich am Mittwoch im Parlament gegen Kritik vonseiten der Labour-Partei. Deren Chef Jeremy Corbyn warf ihr vor, die wirtschaftliche Zukunft des Landes aufs Spiel zu setzen, da sie ausgeschlossen hatte, dass Großbritannien Mitglied des europäischen Binnenmarktes bleibt. Zudem plane sie, das Vereinigte Königreich in eine Steueroase zu verwandeln, was bedeute, dass der öffentlichen Hand Milliarden von Pfund verloren gehen.
May trat äußerst selbstbewusst auf und wurde von ihrer Partei lautstark unterstützt. In der wöchentlichen Fragestunde der Premierministerin im Parlament geht es oft sehr munter zu, an diesem Mittwoch herrschte Lärm wie in einem Fußballstadion. Besonders groß war der Jubel auf den Regierungsbänken, als May Corbyns Vorwürfe mit der lapidaren Bemerkung quittierte: "Ich habe einen Plan, und Sie haben keine Ahnung."
Der Supreme Court muss nun entscheiden, ob May zunächst das Parlament befragen muss
Nach ihrer Rede vom Dienstag hatte May unter anderem mit Hollande und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel telefoniert, zudem sprach sie mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker. Dieser bot Großbritannien einen "fairen Deal" an. Er habe in dem Telefonat am Dienstag mit May deutlich gemacht, dass weder seine Behörde noch andere europäische Institutionen in "feindlicher Stimmung" seien, sagte er am Mittwoch in Straßburg. Es sei gut, dass May vieles klargestellt habe. Vieles sei aber noch offen, was bedeute: "Die Verhandlungen werden sehr, sehr, sehr schwierig."
Die maltesische EU-Ratspräsidentschaft kündigte an, dass drei bis fünf Wochen nach dem Austrittsgesuch der Briten ein Sondergipfel der verbleibenden EU-Staaten organisiert werden solle, um die Verhandlungsstrategie festzulegen. Die Briten wollen Brüssel bis Ende März offiziell über den Austrittswunsch unterrichten. Vor allem die Gespräche über das notwendige Freihandelsabkommen mit Großbritannien dürften mühevoll werden, sagte der maltesische Ministerpräsident Joseph Muscat. In Mays Rede sehe er aber, anders als von britischen Medien dargestellt, "keine Kriegserklärung", sagte er.
In Berlin äußerte sich Angela Merkel am Mittwoch zu Mays Rede. "Wir haben einen klaren Eindruck bekommen, was sie tun will", sagte die Bundeskanzlerin, "wir haben uns (in der EU) vorgenommen, uns sehr eng abzustimmen. Das A und O ist, dass Europa sich nicht auseinanderdividieren lässt."
Während die EU in Großbritannien in erster Linie als Organisation gesehen wird, die den Handel erleichtern soll, betonte Merkel erneut den größeren Kontext. "Europa steht für Frieden und Stabilität, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und freiheitliche Werte", sagte sie, "es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Es ist so, dass wir um das, was uns wichtig ist, wieder kämpfen müssen."
In London steht nun als nächstes das Urteil des Supreme Courts an: Dieser wird am 24. Januar darüber entscheiden, ob Theresa May das Parlament befragen muss, bevor sie Ende März in Brüssel den Beginn der zweijährigen Verhandlungen über Großbritanniens Austritt aus der EU einläutet.