Brexit:Höllenaufgabe für Theresa May

FILE PHOTO: Britain's Prime Minister Theresa May leaves 10 Downing Street in London

Theresa May versucht, ihr Kabinett auf Linie zu bringen und will so in den festgefahrenen Brexit-Verhandlungen vorankommen.

(Foto: REUTERS)

Auf dem Landsitz der britischen Premierministerin sucht das Kabinett eine gemeinsame Position zum Brexit. Erfolge erwartet jedoch kaum jemand, die Regierung hat keinen festen Plan.

Von Cathrin Kahlweit, London

Vielleicht wäre das ja eine Lösung des Problems? Die Times hat vorgeschlagen, der Coach der englischen Fußballmannschaft, Gareth Southgate, solle doch die Brexit-Verhandlungen für das Königreich führen. Der erledige seinen Job jedenfalls professionell und diszipliniert und sein Team agiere wie eine echte Mannschaft, nicht wie kriegerische Stämme.

Nun werden angesichts des Einzugs von England ins Viertelfinale bei der WM in Russland vielleicht zu viele Fußballmetaphern bemüht dieser Tage, aber in einem hat der Times-Kommentator recht: Anders als beim Match am Samstag, wenn das englische Team gegen Schweden antritt, erwartet kaum jemand in Großbritannien, dass am Tag zuvor, bei der Kabinettssitzung in Chequers, etwas herauskommt, was als Erfolg bezeichnet werden könnte. Chequers ist der Landsitz der Premierministerin, wohin sich die Minister in Klausur begeben; auf der Insel wird so ein ministerieller Klassenausflug gern auch "away day" genannt.

Vor der Klausur haben sich die kriegerischen Stämme innerhalb der regierenden konservativen Partei in Stellung gebracht, offene Briefe, kritische Interviews, gegenseitige Beleidigungen auf Twitter inklusive. Zwar wird kolportiert, diesmal drohe keines der Kabinettsmitglieder, so wie unlängst Brexit-Minister David Davis, aus Protest gegen ein unerträgliches Ergebnis zurückzutreten. Umweltminister Michael Gove will diesmal keine Akten aus Wut zerreißen, wie er es vor Kurzem getan haben soll. Aber zugleich wird in Chequers öffentlich verhandelt, wer Premierministerin Theresa May folgen könnte, sollte sie über einer Eskalation des Streits stürzen.

Das Grundproblem: In drei Monaten soll das Verhandlungsergebnis vorliegen, das die künftigen Beziehungen der zweitgrößten europäischen Volkswirtschaft und der Europäischen Union regelt. Aber so recht ist in grundlegenden Fragen nichts vorangegangen, weil das britische Kabinett tief zerstritten ist. Nicht zu reden davon, dass vom Parlament Widerstand droht und die Wirtschaft massiven Druck macht (siehe unten stehenden Bericht).

Wesentliche Fragen sind ungelöst, und alles hängt mit allem zusammen: Wie kann eine harte Grenze in Irland verhindert werden? Wie kann das Königreich sicherstellen, dass es weiter problemlos und kostengünstig mit der EU handelt, wenn es doch zugleich die Zollunion und den Binnenmarkt verlassen und die vier Grundfreiheiten, die in der EU gelten (für Güter, Services, Kapital und Menschen) nicht im selben Maße achten will? In Brüssel heißt es: Die vier Grundfreiheiten sind nicht verhandelbar. Womit ein Vorschlag, den May offenbar in Chequers vorlegen will, schon aus dem Rennen wäre, bevor er überhaupt bei EU-Chefverhandler Michel Barnier auf dem Tisch liegt: ein Verbleib im Binnenmarkt - aber nur bei Gütern. In Sachen Migration etwa behielte sich das Königreich vor, die Tür zur EU zu schließen.

Wie also, fragt man sich im Regierungsviertel, kann Brüssel dazu gebracht werden, die britischen Vorschläge nicht als "Rosinenpickerei" zu bezeichnen? Und letztlich: Kann May das Land, das mehrheitlich für den Brexit gestimmt hatte, in einen - wie es neuerdings heißt - aufgeweichten (soggy) Brexit führen, der die Regeln von Zollunion und Binnenmarkt weitgehend akzeptiert? Genau danach nämlich sieht es derzeit aus.

Es ist eine Höllenaufgabe, die May jetzt bevorsteht - und an der sie bisher gescheitert ist. Sie war diese Woche noch schnell zu ihrem Kollegen Mark Rutte nach Holland geflogen, um Kompromisslinien auszuloten, am Donnerstag besuchte sie Angela Merkel in Berlin, und auch mit Frankreich wird hinter den Kulissen heftig um eine Aufweichung der gemeinsamen EU-Linie gerungen.

Aber erst einmal muss London eben doch ein "White Paper", einen eigenen Vorschlag vorlegen, bevor aufgespalten, aufgeweicht, gedealt werden kann. David Davis, immerhin der Brexit-Minister, hat laut Telegraph schon mal vorab einen Brief an May geschrieben. Ein dritter Weg beim Brexit, ein Teilverbleib in Binnenmarkt und Zollunion nach britischem Gusto, wie er derzeit diskutiert wird, sei Wunschdenken. Vor dem Treffen in Chequers hatten sich zwei Arbeitsgruppen damit beschäftigt, ob es für Irland eine machbare Lösung jenseits des Brüsseler Vorschlags gibt, der einen Verbleib Nordirlands in der Zollunion vorsähe, um eine harte Grenze zur Republik Irland zu vermeiden.

Sie machten zwei Vorschläge, eine technische Lösung, die Kontrollen überflüssig machen soll, und ein kompliziertes Arrangement ("Zoll-Partnerschaft"). Demnach würde Großbritannien für die EU Zölle einsammeln und weiterleiten. Beides wurde von Brüssel zurückgewiesen. Nun will May einen dritten Weg vorschlagen, über dessen Details seit Tagen gerätselt wird. Davis sagt, das neue Modell sei eine Mischung aus den ersten beiden und genauso wenig praktikabel; "wir werden es zerschießen", soll jemand im Brexit-Ministerium angekündigt haben.

Wer immer in London eine Prognose wagt, geht davon aus, dass Chequers endet wie das Hornberger Schießen: erst großes Getöse, dann kommt nichts heraus. Die EU kann das vorläufig noch aussitzen; doch auch Emissäre der Kommission, die sich dieser Tage in London aufhalten, werden langsam nervös, weil sich die Fronten eher verhärten. Am Ende des Sommers könnten ein Abbruch der Verhandlungen, ein Sturz Mays, ein Kampf um ihre Nachfolge und Neuwahlen stehen. Im Regierungsviertel wird schon darüber diskutiert, vorsichtshalber die Übergangsphase nach dem 29. März 2019 zu verlängern, um mehr Zeit zu haben, das Chaos zu beenden. Dazu heißt es in Brüssel: "Auch das müsste bis Oktober beantragt sein."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: