Süddeutsche Zeitung

Brexit-Handelsvertrag:Britische Bescherung

Die EU und Großbritannien haben sich im letzten Moment auf einen Handelsvertrag geeinigt. Das ganz große Chaos - ein No-Deal-Brexit - ist damit abgewendet.

Von Björn Finke und Alexander Mühlauer, Brüssel/London

Am Ende war die Erschöpfung groß, noch größer aber war die Erleichterung: Viereinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum haben sich die Europäische Union und Großbritannien auf einen Vertrag über die künftigen Beziehungen geeinigt. Nach einer langen Verhandlungsnacht und einem letzten Feilschen um Fischfang-Quoten war es am Heiligabend um kurz vor 16 Uhr mitteleuropäischer Zeit soweit: Der britische Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen konnten den Durchbruch verkünden. Nun gibt es einen 1246 Seiten langen Vertrag, der verhindert, dass in einer Woche Zölle eingeführt werden. Das ganz große Chaos, ein No-Deal-Brexit zum Jahreswechsel, ist damit abgewendet.

Bevor Johnson in 10 Downing Street vor die Presse trat, waren von der Leyen und ihr Chefverhandler Michel Barnier in Brüssel schon fertig mit ihren Statements. Von der Leyen sagte, dass sie nach erfolgreichen Verhandlungen normalerweise Freude empfinde, "aber heute fühle ich nur stille Befriedigung und - ehrlich gesagt - Erleichterung". Es sei nun an der Zeit, den Brexit hinter sich zu lassen: "Unsere Zukunft liegt in Europa." Die Deutsche verkniff sich auch nicht, die Briten auf die unterschiedlichen Kräfteverhältnisse hinzuweisen: Kein Handelsvertrag könne die Schwerkraft aufheben, sprich: Weniger mächtige Staaten werden weiter in der Einflusssphäre mächtiger Staaten oder Wirtschaftsblöcke bleiben. Und "wir sind einer der Giganten", sagte die Chefin der Brüsseler Behörde.

In London erklärte der Premier, dass dieser Deal dem britischen Volk genau das liefere, wofür es beim Brexit-Referendum gestimmt habe: "Wir gewinnen wieder die Kontrolle über unser Geld, unsere Gesetze und unsere Gewässer." Das Vereinigte Königreich habe nun die Möglichkeit, weltweit eigene Handelsabkommen zu schließen, und sei zum ersten Mal seit 1973 wieder ein unabhängiger Küstenstaat. Die Beziehungen der EU seien in den vergangenen Jahrzehnten immer schwierig gewesen, sagte Johnson, nun gehe es darum, die neuen Möglichkeiten zu nutzen. Mit dem Vertrag könne Großbritannien "fantastische Dinge tun". In Richtung Brüssel sagte Johnson: "Wir werden euer Freund sein, euer Partner, euer Unterstützer, und nicht zu vergessen, euer Nummer-Eins-Markt." Auch wenn Großbritannien die EU verlassen habe, werde es "kulturell, emotional, historisch, strategisch und geografisch mit Europa verbunden bleiben".

Das Ende der Freizügigkeit hat auch für britische Bürger Konsequenzen

Der Vertrag zwischen London und Brüssel ist ein historisches Abkommen. Das Vereinigte Königreich hat zwar seit 31. Januar die Europäische Union nach 47 Jahren Mitgliedschaft verlassen, doch der wahre Bruch kommt erst zum Jahreswechsel. Dann endet die Brexit-Übergangsphase, in der Großbritannien noch Teil des EU-Binnenmarkts und der Zollunion ist. Von 1. Januar an erhält das Königreich nun dank des Handelsvertrags zwar einen zollfreien Zugang zum größten Wirtschaftsraum der Welt, trotzdem werden Exporteure Zollpapiere ausfüllen müssen. Es wird auch stichprobenartige Kontrollen geben.

Neben der Freiheit, eigene Handelsverträge zu schließen, kann der Premier vor allem ein Kernversprechen des Brexit einlösen, das bereits im Austrittsvertrag verankert worden war: EU-Bürger, die sich im Königreich niederlassen wollen, müssen vom neuen Jahr an bestimmte Auflagen erfüllen, um einwandern zu können. So gibt es eine Einkommensschwelle, die vor allem die Zuwanderung von Geringqualifizierten verhindern soll. Das Ende der Freizügigkeit für Arbeitnehmer der EU war ein entscheidender Grund für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union.

Für Britinnen und Briten hat das allerdings zur Folge, dass sie zum Jahreswechsel das Recht verlieren, in allen Staaten der Europäischen Union zu leben und zu arbeiten. Britische Studierende können künftig nicht mehr am Austauschprogramm Erasmus teilnehmen. Johnson sprach von einer "schwierigen Entscheidung", aber dafür werde es nun ein britisches Programm geben, mit dem Studierende Universitäten weltweit - und nicht nur in Europa - besuchen könnten, versprach der Premier.

Laut Angaben aus Verhandlungskreisen haben die Briten große Zugeständnisse bei den Fangquoten gemacht

EU-Chefverhandler Barnier und sein britisches Gegenüber Lord David Frost verhandelten seit März über die künftigen Beziehungen. Bis zuletzt waren vor allem drei Themen umstritten: die Fangquoten von EU-Fischern in britischen Gewässern, die Vorgaben für fairen Wettbewerb unter Firmen in Großbritannien und in der EU - sowie die Frage, wie Streitfälle geschlichtet werden können. Ganz am Schluss, bevor die Feinheiten noch einmal Seite für Seite durchgegangen worden sind, ging es um die Fangquoten in den fischreichen britischen Gewässern.

Noch am Wochenende hatte London darauf beharrt, 60 Prozent des Fangwertes der EU-Fischer in britischen Gewässern für sich zu reklamieren. Dann reduzierte Johnson die Forderung auf 35 Prozent. Die EU hatte aber bis zuletzt auf 25 Prozent beharrt und setzte sich damit nach Angaben aus der Kommission durch. Diese Kappung der Fangquoten soll schrittweise über fünfeinhalb Jahre erfolgen.

Ein weiterer Streitpunkt während der vergangenen Monate war das sogenannte Level Playing Field, also die Vorgaben für fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen in Großbritannien und denen in der EU. Nach Aussage hoher Kommissionsbeamter sieht der Vertrag vor, dass sich die EU und die britische Regierung bei der Subventionspolitik gemeinsamen Prinzipien unterwerfen. Bei Verstößen gegen diese Regeln können geschädigte Unternehmen vor Gericht klagen. Außerdem könnte die EU Strafzölle verhängen, wenn britische Subventionen zu unfairem Wettbewerb führen - oder umgekehrt.

Das EU-Parlament wird sich erst im Januar mit dem Vertrag befassen

Wichtig für Johnson: Die Briten verpflichten sich zwar, kostspielige Sozial- und Umweltstandards nicht abzusenken, aber sie müssen der EU nicht folgen, wenn der Wirtschaftsblock seine Standards verschärft. Das könnte über die Jahre dazu führen, dass eine Seite ihren Unternehmen in wichtigen Bereichen härtere und teurere Regeln auferlegt und dies der anderen Seite unfaire Vorteile im Wettbewerb beschert. In dem Fall darf die benachteiligte Seite - also London oder Brüssel - Strafzölle verhängen oder anderweitig Vorteile des Handelsvertrags streichen, um wieder eine Balance herzustellen. Außerdem soll es einen Streitschlichtungsmechanismus geben.

Der Vertrag liegt nun also auf dem Tisch. Jetzt muss er noch in Gesetzesform gegossen werden. Am Freitagvormittag sollen die 27 EU-Botschafter den Vertragstext in Brüssel diskutieren. Alle Regierungen müssen zustimmen. Normalerweise würde die Entscheidung, den Vertrag zu unterschreiben, bei einer Sitzung des EU-Ministerrats fallen, aber wegen Corona und der knappen Zeit soll der Beschluss schriftlich erfolgen, ohne Treffen der Minister. Zugleich werden die Mitgliedstaaten festlegen, dass der Vertrag am 1. Januar provisorisch in Kraft tritt - dies bedeutet: ohne vorheriges Plazet des Europaparlaments. Sobald das Abkommen im Amtsblatt der EU veröffentlicht ist, wird es wirksam. Das EU-Parlament wird sich erst im Januar nachträglich mit dem Vertrag befassen.

In London müssen noch Unterhaus und Oberhaus zustimmen, bevor die Queen die Königliche Zustimmung (Royal Assent) gibt. Eine Sondersitzung des Parlaments ist für den 30. Dezember geplant. Die Hardcore-Brexiteers in Johnsons konservativer Partei haben bereits angekündigt, dass sie den Vertrag von Anwälten prüfen lassen. Sie wollen dem Abkommen nur zustimmen, wenn es die volle Souveränität des Vereinigten Königreichs wahrt. Johnson verfügt im Unterhaus über eine Mehrheit von 80 Stimmen. Der britischen Sun zufolge haben 20 Tory-Abgeordnete vor, ihre Zustimmung zum Vertrag zu verweigern. Die Gefahr, dass der Deal keine Mehrheit im Unterhaus findet, ist damit so gut wie ausgeschlossen.

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