Süddeutsche Zeitung

Brexit:England ist so viel größer und besser als das

Der Kampf gegen den Brexit ist verloren. Doch der für ein weltoffenes, mutiges, tolerantes und großherziges Land hat gerade erst begonnen.

Gastbeitrag von Timothy Garton Ash

Die Geschichte, schrieb einst der Dichter W. H. Auden, könne den Verlierern ihr Bedauern aussprechen, nur begnadigen könne sie sie nicht. Er bezog sich damit auf den spanischen Bürgerkrieg, doch heute treffen seine Worte genauso auf uns, die britischen Europäer, zu. Wir haben dafür gekämpft, dass unser Land in der Europäischen Union bleibt, und wir haben verloren. Die Hälfte Großbritanniens, die die EU verlassen will, hat sich vereint um Boris Johnson geschart. Die andere Hälfte jedoch, die noch immer in der EU bleiben will, hat sich spalten und von dem Wahlrisiko namens Jeremy Corbyn niederdrücken lassen.

Hat 2016 der so irreführende wie effektive Drei-Wort-Slogan "Take back control" das Referendum gewonnen, so wurde diese Wahl vom nicht minder effektiven und irreführenden Slogan "Get Brexit done" gewonnen. Auch wenn viele Wähler insgeheim wussten, dass dieses Versprechen zu gut war, um wahr zu sein, überwog letztlich ihr Wunsch nach seiner Erfüllung. Und machen wir uns doch nichts vor: Selbst in den Leidenschaftlichsten unter uns Remainern steckte irgendwo, tief drin, eine kleine Stimme, die nicht anders konnte, als zu rufen: "Get Brexit done!"

Heute aber erwidere ich Audens Worte mit einem großen Spruch von Józef Piłsudski, dem Anführer des polnischen Unabhängigkeitskampfes am Anfang des 20. Jahrhunderts: "Gewinnen und sich auf seinen Lorbeeren ausruhen, das ist die Niederlage; verlieren und nicht aufgeben, das ist der Sieg."

Eine der vielen unerquicklichen Erfahrungen, die uns Briten in den kommenden Monaten erwarten, ist, uns von eloquenten Demagogen wie Johnson und seinem Verbündeten Michael Gove, zwei Männern, die mehr als alle anderen zur Zerrissenheit dieses Landes beigetragen haben, das Mantra von der "Einigung des Landes" anhören zu müssen - "Bringing the country together". Dabei ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Vereinigte Königreich nach dem Brexit nicht nur schwächer, ärmer und weniger einflussreich sein wird, sondern effektiv nicht länger als einzelner Staat existieren wird. Das ist das andere klare Signal dieser Wahl.

Bereits unter Johnsons Brexit-Deal wird Nordirland sich in einem anderen Wirtschafts- und Rechtsraum befinden als England, Schottland und Wales. Erstmals haben die Nordiren mehr republikanische als unionistische Abgeordnete gewählt. Und obgleich das Land verfassungsrechtlich wohl für absehbare Zeit Teil des Vereinigten Königreichs bleiben wird - eine formelle Abspaltung könnte es in seine blutigsten Zeiten zurückstürzen -, wird es in der Realität doch nach und nach in den übrigen Teil der irischen Insel integriert werden.

Als Engländer hoffe ich, dass die Schotten bei uns bleiben

Schottland hat unterdessen mit solchem Nachdruck die Schottische Nationalpartei (SNP) gewählt wie England die Tories, und das angesichts des expliziten Wahlversprechens der SNP, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten, um die britische Union zugunsten der europäischen zu verlassen. Als Engländer hoffe ich, dass die Schotten bei uns bleiben und so die Stärke, Vielfalt und Offenheit der multinationalen Nation Großbritannien fördern. Es gibt dafür viele rationale, wirtschaftliche Argumente. Wäre ich allerdings Schotte, würde ich mittlerweile vermutlich für die Unabhängigkeit stimmen, in dem Wissen, dass sich kleine Länder in der EU normalerweise ziemlich gut schlagen. Sollte Johnson den Schotten weiterhin das Recht auf ein zweites Referendum verweigern, erhöht das nur die Chance, dass sie für die Unabhängigkeit stimmen.

Ein solches Resultat würde uns ins 17. Jahrhundert zurückversetzen, in die Zeit vor der Vereinigung mit Schottland im Jahr 1707. Manche würden sogar behaupten, wir fielen ins 16. Jahrhundert zurück, als lediglich England und Wales unter einem Souverän vereint waren. Darin liegt eine tiefe Ironie. Ebenjener Brexit, der von postimperialistischen Illusionen englischer Größe lebt, wird letztendlich wohl zur Sprengung des ursprünglichen, kleinsten englischen Empire führen: das dieser Inseln. Nur Wales wird dann noch übrig sein, um zu entscheiden, ob es bleiben will oder gehen.

Doch England ist so viel größer und besser als das

All das wird Jahre in Anspruch nehmen, und das Ergebnis ist keineswegs unabwendbar. Vielleicht entscheiden die Schotten sich ja am Ende doch lieber für das Übel, das sie zumindest kennen. Aber es ist nicht zu früh für uns Liberale, im weitesten Sinne gefasst, den Kampf um England zu beginnen. Der Brexit ist im Kern ein englisches nationalistisches Unterfangen. Die Flagge von St. George, die Sprache, die Mystik, den emotionalen Reiz von England und Englishness, das alles haben die Nationalisten und Xenophoben an sich gerissen, ganz zu schweigen von Rassisten wie Tommy Robinson, Mitbegründer der sogenannten English Defence League.

Doch England ist so viel größer und besser als das. Selbst allein wäre es noch ein recht großes europäisches Land mit außergewöhnlichen Stärken: im Kulturbetrieb, in der Presse, dem Universitätswesen, der Finanzbranche, der Medizin, dem Sport, der digitalen Innovation. Und dann ist da natürlich die kosmopolitische Republik des Ballungsraums London. England blickt zurück auf eine einzigartige, kontinuierliche Geschichte von zehn Jahrhunderten als Nation mit eigenen Gesetzen und einer Tradition der Selbstverwaltung. Es ist das Land von John Milton, John Lilburne, John Stuart Mill, Charles Dickens und George Orwell: weltoffen, mutig, tolerant und großherzig.

Diese Werte verbinden uns mit Millionen anderer Europäer

Allen Veränderungen der Jahrhunderte zum Trotz lässt sich noch immer jenes Volk erkennen, das Milton 1644 wie folgt beschrieb: "eine Nation ohne Lahmheit und Stumpfsinn, mit wachem, raffiniertem und bestechendem Geist; scharfsinnig erfindend, kraftvoll im Diskurs, nie außer Reichweite des höchsten Punkts menschlicher Fähigkeit". Bereichert und belebt von Jahrzehnten der Immigration, sind wir noch immer dieselbe Nation, denn diese Eigenschaften sind kulturell bedingt, nicht durch den Geburtsort. Wir sind nur leider, wie Orwell 1941 schrieb, eine Familie, in der die Falschen die Oberhäupter sind. Aber immerhin: eine Familie.

Der Kampf gegen den Brexit ist verloren. Der für ein europäisches England hat gerade erst begonnen. Als wir Remainer zu Hunderttausenden mit improvisierten Plakaten und europäischen Flaggen durch die Straßen Londons zogen, kämpften wir nicht nur um die britische Mitgliedschaft in einer Reihe europäischer Institutionen. Wir kämpften auch für eine bestimmte Idee von Großbritannien, und darin enthalten, England: offen, tolerant, international, staatsbürgerlich und zivilisiert, mit einem Bewusstsein für die sozialen Grundfesten individueller Freiheit, nicht nur für ihre rohen wirtschaftlichen Ausdrucksformen.

Diese Werte verbinden uns mit Millionen anderer Europäer. In diesem Sinne zogen wir ebenso sehr für ein europäisches England durch die Straßen. Und dafür können wir uns auch weiterhin einsetzen. In dieser Stunde der Niederlage kann ich nicht anders, als mit Orwell zu sagen: Ich glaube an England, und ich glaube daran, dass wir vorwärtsgehen werden.

Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford. Aus dem Englischen von Cornelius Dieckmann.

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SZ vom 20.12.2019
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