Brexit:Gewagtes Spiel mit hohem Einsatz

Großbritanniens Premierministerin Theresa May nach dem EU-Sondergipfel

"Das ist der einzig mögliche Deal": Großbritanniens Premierministerin Theresa May warb nach dem EU-Sondergipfel erneut für die Austrittsvereinbarung.

(Foto: AFP)
  • Die Staats- und Regierungschefs der EU haben das Austrittsabkommen mit Großbritannien gebilligt.
  • Jetzt ist Theresa May am Zug. Schafft sie es, dem britischen Parlament eine Zustimmung zum Deal abzuringen?
  • Der Premierministerin bleiben nur wenige Wochen, um die Stimmung zu drehen und sich eine Mehrheit zu organisieren.

Von Björn Finke, London

Der Brief hat zwei Seiten. Oben auf die erste Seite ist groß die Adresse des Absenders gedruckt: 10 Downing Street. Das ist der Amtssitz der Premierministerin. Der Empfänger ist nicht genannt, eine Anrede gibt es auch nicht, dafür steht am Ende, nach neun Absätzen voller Versprechen, Rechtfertigungen und Appellen, die krakelige Unterschrift von Theresa May. Die britische Regierungschefin veröffentlichte am Wochenende in Zeitungen und im Internet einen "Brief an die Nation", in dem sie für das Austrittsabkommen mit der EU warb.

Nachdem die Staats- und Regierungschefs den Vertrag am Vormittag gebilligt haben, legt sie nach. Dies sei der "einzig mögliche Deal", sagt sie bei einer Pressekonferenz. Das Abkommen gebe ihrem Land Kontrolle über die Grenzen, das Geld und die Gesetze. Die Vereinbarung gebe der Wirtschaft Sicherheit. Einem zweiten Referendum erteilte May eine Absage.

Für die anderen EU-Staaten und die Kommission stellt die Einigung beim Gipfel am Sonntag das Ende langwieriger und zäher Verhandlungen dar; die Beteiligten können sich erschöpft, aber erleichtert auf die Schultern klopfen. Für May hingegen beginnen nun erst die schwierigsten - und wichtigsten - Wochen ihrer Amtszeit. Denn das britische Parlament muss den Brexit-Vertrag absegnen, und es ist fraglich, ob May eine Mehrheit findet. Als wahrscheinlichster Termin für diese historische Abstimmung gilt der 12. Dezember.

Lehnen die Abgeordneten in Westminster den Vertrag über die Bedingungen der Scheidung ab, droht am 29. März 2019 ein Brexit ohne Abkommen, eine ungeregelte Trennung. Die vereinbarte Übergangsphase, in der sich für Bürger und Firmen fast nichts ändern soll, fiele weg. Stattdessen würden Zölle auf Geschäfte über den Ärmelkanal eingeführt. Zöllner müssten Lastwagen stichprobenartig kontrollieren, was Staus an den Häfen zur Folge haben könnte. Im schlimmsten Fall würden Fluggesellschaften das Recht verlieren, Flughäfen der jeweils anderen Seite anzusteuern. Die Wirtschaft würde massiv leiden.

Trotzdem kündigen mehr als 90 der 314 Abgeordneten von Mays Konservativen an, dass sie wohl gegen den Vertrag stimmen werden. Auch die zehn Parlamentarier der nordirischen Regionalpartei DUP, welche die Minderheitsregierung der Tories stützen, lehnen das Abkommen ab. May verfügt im Parlament über eine dünne Mehrheit von 13 Sitzen: Selbst wenn nur ein kleiner Teil der Rebellen ihre Drohung wahr macht, droht eine krachende Niederlage.

Der Premierministerin bleiben nur wenige Wochen, um die Stimmung zu drehen und sich eine Mehrheit zu organisieren. Ihr Werben wendet sich nicht nur an Abgeordnete, sondern auch direkt an die Bevölkerung. Sie beantwortete Hörerfragen im Radio und veröffentlichte nun den offenen Brief. "Ich werde mit Herz und Seele dafür kämpfen, diese Abstimmung zu gewinnen", schreibt sie da. Das Land müsse endlich mit dem Brexit vorankommen, um die Spaltung zwischen "Leave" und "Remain", den Austritts-Fans und -Gegnern, zu überwinden. Zudem könne sich die Regierung dann wieder stärker anderen wichtigen Themen widmen, etwa der Gesundheits- und der Bildungspolitik. Die Vereinbarungen respektierten das Ergebnis der Volksabstimmung und seien "in unserem nationalen Interesse", behauptet May.

Genau das bezweifeln die Vertragsgegner bei den Tories. Ihnen missfällt vor allem der sogenannte Backstop für Nordirland, eine Auffanglösung, die verhindern soll, dass jemals Lastwagen an der inneririschen Grenze kontrolliert werden müssen. London und Brüssel werden nach dem Brexit, in der Übergangsphase, über einen Handelsvertrag sprechen, der im besten Fall Kontrollen an Häfen und in Irland überflüssig macht und reibungslose Geschäfte ermöglicht. Kommt der Vertrag aber nicht zustande, soll nach der Übergangsphase der Backstop in Kraft treten: Großbritannien würde in einer Zollunion mit der EU bleiben, bis eine andere Lösung gefunden ist; Nordirland müsste sich weiter an EU-Standards halten.

Viele Brexit-Fans bei den Tories wollen einfach nur raus aus der EU

Brexit-Fans bei den Konservativen argumentieren, dass dieser Backstop das Land dauerhaft an EU-Regeln binde und die Verhandlungsposition schwäche. Die Sonderrolle Nordirlands gefährde außerdem die Einheit des Königreichs. Die nordirische Partei DUP bekräftigte am Wochenende auf einem Parteitag ihren Widerstand gegen den Backstop.

Größter Trumpf von May sind der Zeitdruck und das Chaos, das bei einer Ablehnung droht. Im Parlament gibt es keine Mehrheit für irgendeine Brexit-Version, weder für einen harten noch einen weichen, und auch keine für ein neues Referendum. Es existiert aber eine sehr große, parteiübergreifende Mehrheit dafür, nicht ohne Abkommen auszutreten, weil dies dem Land schaden würde. Stimmt das Parlament gegen den Vertrag, könnte May daher Brüssel bitten, den Austritt um einige Monate zu verschieben. Während dieser Zeit könnte London versuchen, die politische Blockade aufzulösen: durch Neuwahlen oder zumindest dadurch, dass die Konservative Partei intern einen neuen Premierminister bestimmt.

Viele Brexit-Fans bei den Tories wollen einfach nur raus aus der EU. Die Verzögerungen und die Ungewissheit, die eine Ablehnung zur Folge haben könnte, ist solchen Abgeordneten ein Graus. Sie könnten daher am Ende für das Abkommen stimmen, selbst wenn sie es furchtbar finden. Daneben müsste May aber auch Labour-Abgeordnete überzeugen, ihr auszuhelfen. Die Führung der größten Oppositionspartei verkündet, gegen den Vertrag zu stimmen: Die Sozialisten wollen Neuwahlen herbeiführen. Doch einige Labour-Politiker könnten May dennoch unterstützen, um Chaos abzuwenden.

Eine andere Theorie besagt, dass nach einer Ablehnung der Pfund-Kurs und die Aktienkurse abstürzen könnten. Manager könnten androhen, im großen Stil Jobs zu kappen. Dann könnte May den Vertrag kurz darauf noch einmal zur Abstimmung stellen, mit kosmetischen Änderungen, und hätte bessere Erfolgschancen.

Ein gewagtes Spiel - mit sehr hohem Einsatz.

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