Süddeutsche Zeitung

Europaparlament in Straßburg:Barnier: Ein Brexit ohne Deal löst die Probleme nicht

  • EU-Kommissionspräsident Juncker sagt vor dem Europaparlament in Straßburg, dass das Risiko eines No-Deal-Austritts auch nach Gesprächen mit dem britischen Premier Johnson bestehen bleibe.
  • Die Europaabgeordneten stellen den Briten eine weitere Fristverlängerung in Aussicht.
  • Brexit-Chefunterhändler der EU Barnier betont, ein Austritt ohne Abkommen bedeute keine Lösung für Fragen der künftigen Zusammenarbeit.
  • Der liberale Abgeordnete Verhofstadt wirft gegenüber EU-Kritiker Farage die Frage auf, wie es eigentlich um die Demokratie im Vereinigten Königreich bestellt ist.
  • Farage selbst sieht sich in seiner Haltung allerdings bestätigt, weil Premier Johnson in Luxemburg "gedemütigt" worden sei.

Von Barbara Galaktionow

In sechs Wochen ist es so weit: Wenn Boris Johnson seine Haltung nicht noch ändert, tritt das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aus - ob mit oder ohne Austrittsabkommen.

Das Europäische Parlament stimmte am Mittwoch mit großer Mehrheit für eine Resolution (hier der Text), in der den Briten eine nochmalige Fristverlängerung in Aussicht gestellt wird - wenn es gute Gründe dafür gibt. Mit 544 zu 126 Stimmen sprachen sie sich dafür aus, das Austrittsdatum 31. Oktober notfalls weiter aufzuschieben. 38 Abgeordnete enthielten sich.

Am Montag hatte der britische Premier erstmals direkte Gespräche mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Chefunterhändler Michel Barnier geführt. Die Gespräche seien "freundlich, konstruktiv und zum Teil auch positiv" gewesen, konstatierte Juncker am Mittwoch vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Das Risiko eines No-Deals, eines Austritts ohne Abkommen, bleibe jedoch bestehen. Das sei die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, aber niemals die der Europäischen Union. Der Backstop, das Sicherheitsnetz für die Regelung an der Grenze zwischen der EU und Nordirland, bleibe die zentrale Frage.

Er habe Johnson aufgefordert, schriftlich konkrete Alternativen für die im ausgehandelten Ausstiegsvertrag vorgesehen Backstop-Regelung vorzulegen, sagte Juncker. Solange das nicht geschehen sei, "kann ich Ihnen auch nicht sagen, dass diese Fragen geklärt sind".

Barnier, Chefunterhändler der EU für den Brexit, sagte, die britische Regierung habe ihre Kritik am Backstop erneut deutlich gemacht. Doch das reiche nicht. Beim Backstop gehe es um Garantien, die absolut erforderlich seien, um die Risiken einzudämmen, die der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs mit sich bringe - für die Bürger auf der irischen Insel, aber auch in den übrigen EU-Staaten. Als Beispiele nannte Barnier etwa Lebensmittel- oder Produktsicherheit.

Als weiteres Schlüsselthema nannte Barnier die Verhandlungen über eine künftige strategische Partnerschaft. Die im Austrittsvertrag vorgesehene politische Erklärung gehe von einem Freihandelsabkommen aus, doch könne das natürlich nur unter Bedingungen wie fairer Zusammenarbeit und einem guten Regulierungsniveau in Kraft treten.

Barnier verwies zudem darauf, das ein Austritt ohne Abkommen keine Lösung sei - "Wenn das Vereinigte Königreich ohne Abkommen austritt, werden all diese Themen nicht verschwinden. Wir werden sie auf jeden Fall lösen müssen."

Verhofstadt: "Wir sind nicht dumm"

Das Europäische Parlament bekräftige seine Positionen zum Brexit an diesem Mittwoch in seiner Resolution. Der Brexit-Beauftragte des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, nannte deren zentrale Ziele: Die Rechte der Bürger müssten gewahrt bleiben. Zudem sei der Backstop notwendig, um dafür zu sorgen, dass auf die irische Insel nicht die Gewalt zurückkehre - ohne eine Alternativlösung sei es "unverantwortlich", wenn britische Abgeordnete diese Regelung ablehnten.

Was die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU angeht, betonte der liberale Abgeordnete, dass das Europäische Parlament eine Lösung niemals akzeptieren werde, bei der London alle Vorteile des Freihandels genieße, sich aber nicht an EU-Standards halten müsse. "Wir sind nicht dumm."

Verhofstadt verteidigte die EU zudem vor dem Vorwurf, undemokratisch zu sein. Gerichtet an einen der schärfsten EU-Kritiker und Brexit-Befürworter, den britischen Abgeordneten Nigel Farage von der Brexit-Partei, wies der Liberale auf die umstrittene Schließung des britischen Unterhauses hin. Premier Johnson hat das Parlament in Westminster in Zwangsurlaub geschickt, über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme wird diese Woche vor dem britischen Supreme Court verhandelt. Juncker könne das Europaparlament nicht schließen, hob Verhofstadt hervor.

Farage sagte, selbst ohne Backstop-Regelung sei der Austrittsvertrag ein sehr schlechter Deal. "Wir überlassen uns komplett Ihren Händen", sagte er an die EU gerichtet. Hier sei immer vom Wohlwollen der EU die Rede. Doch wie groß das sei, habe sich diese Woche ja im Verhalten des Luxemburger Premierministers Xavier Bettel gezeigt, der den britischen Premier Johnson "gedemütigt" habe - und dann in Frankreich von Präsident Emmanuel Macron "wie ein Held" begrüßt worden sei. Bettel hatte seinem Frust über den Verlauf der Brexit-Verhandlungen am Montag deutlichen Ausdruck verliehen, nachdem Johnson nach Gesprächen in Luxemburg entgegen der Planung nicht mit ihm vor die Presse getreten war. Ein klarer Schnitt sei die beste Lösung beim Brexit, sagt Farage, erst dann könne man überhaupt "erwachsene Gespräche" führen.

Der britische Premier Johnson will Großbritannien Ende Oktober aus der EU führen, notfalls auch ohne ein Abkommen. Allerdings könnte ihn ein vom Unterhaus beschlossenes Gesetz zwingen, vorher eine weitere Verlängerung der Austrittsfrist zu beantragen.

Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon kündigte im Falle eines ungeordneten Brexit ein neues Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands an. "Wir sollten dies dann 2020 ins Auge fassen", sagte Sturgeon bei einem Besuch in Berlin. Sie riet der EU, einer erneuten Verlängerung des Austritts-Datums zuzustimmen, sollte Großbritannien dies beantragen. Premierminister Boris Johnson versuche verzweifelt, die EU zum Schuldigen für einen Austritt ohne Vertrag zu machen, begründete sie ihre Position. Die EU sollte deshalb alles vermeiden, was er dazu nutzen könnte.

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