Brexit:Die Einheit der übrigen EU-Länder ist in Gefahr

Brexit - Anti-Brexit-Demonstranten stehen vor dem Parlament in London

Anti-Brexit-Demonstranten mischen die Flaggen mit EU-Symbolen auf dem Union Jack.

(Foto: dpa)
  • Die EU hat Nachverhandlungen beim Brexit bisher kategorisch ausgeschlossen. Der angestrebte Deal ist in London jedoch nun so krachend gescheitert, dass diese Haltung zu bröckeln beginnt.
  • Es haben sich zwei Lager gebildet in den übrigen EU-Staaten. Es gibt die Länder, die zu Kompromissen bereit sind - und die, die dagegenhalten.
  • Dass es zu einer solchen Spaltung kommen konnte, liegt zu einem großen Teil an Irland, dem ein "No Deal" am Ende lieber sein könnte als ein zeitlich begrenzter Backstop.

Von Karoline Meta Beisel und Alexander Mühlauer, Brüssel

Um ihn herum stürmt es, aber Michel Barnier verzieht keine Miene. Der große Sturm ist das Unwetter, das seit Dienstagabend tobt, ausgelöst durch das krachende Scheitern des Brexit-Deals in London. Doch es gibt auch einen kleinen Sturm, den von Mittwochmorgen. Er ist für Barnier deutlich angenehmer, denn es ist ein Sturm der Zuneigung: Nach seinem Auftritt im EU-Parlament in Straßburg bekommt der Brexit-Chefunterhändler Beifall, wie man ihn hier selten hört. Es scheint, als ob sich die Abgeordneten vor Begeisterung über seine Arbeit gleich von den Sitzen erheben. Doch so weit kommt es nicht, auch Barnier bleibt regungslos sitzen. Nur einmal fasst er sich kurz ans Herz. In seiner Rede erlaubt sich Barnier gerade so viel Emotion, wie es sein Amt zulässt: "Wir bedauern das Ergebnis sehr", sagt er, auch wegen der über zwei Jahre gemeinsam geleisteten Arbeit.

Bei allem Bedauern und bei aller Ratlosigkeit ist die Botschaft der EU in Richtung London klar: Sortiert euch bitte und sagt endlich was ihr wollt!

Doch so einfach ist das nicht. Der Austrittsvertrag wurde mit einer derart großen Mehrheit vom britschen Unterhaus abgelehnt, dass sich auch die EU eingestehen muss: Dieser Deal ist gescheitert. In Brüssel, Paris und anderswo fragen sich die politisch Verantwortlichen nicht ohne Grund, welchen Anteil sie daran haben. Sie alle müssen nun überlegen, inwieweit sie bereit sind, auf die Briten zuzugehen. Gerade weil die EU ein No-Deal-Szenario unbedingt abwenden will, muss sie wohl das zulassen, was sie verhindern wollte: Nachverhandlungen mit London.

Der ausgehandelte Brexit-Vertrag ist der einzig mögliche? Die Ansage entpuppt sich als Mär

Die Ansage der Staats- und Regierungschefs, dass der nun gescheiterte Vertrag der beste und vor allem der einzig mögliche sei, entpuppt sich am Tag nach der Unterhaus-Abstimmung als Mär. Die EU der 27 verbleibenden Mitgliedsstaaten (EU-27) wollte sich allein schon aus Selbstschutz nicht noch einmal über das Austrittsabkommen beugen. Denn das hätte die Geschlossenheit gefährden können. Bislang ließ sich die EU-27 nicht spalten - weder von außen noch von innen. Doch damit könnte es nun vorbei sein.

In den EU-Staaten sind bereits unterschiedliche Töne zu hören. Es gibt, grob gesagt, zwei Gruppen. Auf der einen Seite stehen Deutschland, die Niederlande und andere vor allem nordeuropäische Staaten, die wirtschaftlich stark mit Großbritannien verbunden sind. Sie alle wollen einen Austritt ohne Abkommen auf jeden Fall verhindern. Auf der anderen Seite stehen Frankreich, Spanien und Länder, die nicht nur geografisch weit von London entfernt sind. Sie sehen nicht ein, warum die EU einem künftigen Drittstaat noch weiter entgegenkommen sollte.

Der Streit der Lager droht sich an der Irland-Frage zu entzünden. "Am Ende steht oder fällt ein Brexit-Deal mit dem Backstop", sagt ein EU-Diplomat. Diese Auffanglösung soll Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland verhindern, die nötig wären, wenn sich Brüssel und London nicht auf ein Freihandelsabkommen einigen können. Laut Backstop verbliebe Nordirland de facto im Binnenmarkt und würde damit anders behandelt als der Rest des Vereinigten Königreichs. In London galt dieser Backstop von Anfang an als ausgeschlossen.

Premierministerin Theresa May versuchte deshalb, die Auffanglösung zeitlich zu begrenzen. Doch darauf ließ sich die EU nicht ein, denn für Irland ist der Backstop eine Versicherung, dass es zu keiner gesicherten Grenze auf der irischen Insel kommt. Ansonsten könnte der immer noch fragile Frieden dort in Gefahr geraten. "Wer behauptet, wir brauchen keinen Backstop, der soll das mal all jenen sagen, die bei dem Versuch, die Grenze zu übertreten, getötet wurden", sagt der irische Christdemokrat Seán Kelly am Mittwoch bei der Debatte in Straßburg mit Blick auf die Toten des Nordirlandkonfliktes.

Klar ist aber auch: Wenn die EU den Austrittsvertrag doch noch retten will, muss sie sich wohl beim Backstop bewegen. Dazu werden insbesondere zwei Optionen diskutiert: Die EU könnte sich erstens dazu verpflichten, ein Freihandelsabkommen mit London bis zu einem bestimmten Datum, etwa Ende 2021 oder 2022, auszuhandeln. Damit wäre der Backstop zeitlich begrenzt. Eine rechtlich bindende Zusicherung, dass dies klappt, kann die EU den Briten aber nicht geben; es wäre allenfalls eine politische Absichtserklärung. In Brüssel geht man davon aus, dass May damit keine Mehrheit im Unterhaus überzeugen könnte, für einen Deal zu stimmen.

Bleibt Option zwei: Die EU verhandelt mit London doch noch einmal über eine Befristung des Backstop, unabhängig davon, ob ein Handelsvertrag zustande kommt. Genau das will May, doch bislang legte Irland sein striktes Veto ein. Dublin sieht in der Auffanglösung eine Art Friedenspolice, um eine gesicherte Grenze zu verhindern. Und weil in der EU die Stimme eines Mitgliedsstaates eben mehr zählt als die Stimme eines Mitgliedsstaates, der die Gemeinschaft verlassen will, standen bislang alle anderen auf der Seite Dublins. Irlands oberstes Ziel ist es, eine spürbare Grenze zu verhindern - im Fall eines No Deals wäre Dublin wohl sogar dazu bereit, einfach auf Kontrollen zu verzichten.

Wenn es eine Mehrheit im Unterhaus gibt, dann gegen einen No Deal. Den will keiner

Seitdem der irische Premier Leo Varadkar hat erkennen lassen, dass ihm ein solches Szenario lieber wäre als ein zeitlich begrenzter Backstop, hat die Einheit der EU-27 allerdings zu bröckeln begonnen. Kein Wunder, denn eines hat die Abstimmung im britischen Unterhaus gezeigt: Wenn es eine Mehrheit im Unterhaus gibt, dann gegen einen No Deal. Den will keiner. Weder die Briten noch die EU - mit Ausnahme der Iren, die ein solches Szenario natürlich auch nicht wollen, aber dem zeitlich befristeten Backstop vorziehen würden.

In den kommenden Tagen und Wochen dürfte der Druck auf Dublin massiv steigen. Und zwar nicht nur von London, sondern auch vonseiten anderer EU-Staaten. In Brüssel wird schon ein Szenario ventiliert, das Irland alarmieren muss. Mal angenommen, Dublin würde sich im Fall eines ungeordneten britischen EU-Austritts am 29. März weigern, die Grenze zu Nordirland zu kontrollieren, damit es dort nicht zu Unruhen oder gar Gewalt kommt. Dann wäre die EU-Kommission gezwungen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Irland einzuleiten, schließlich wäre die Integrität des Binnenmarktes nicht mehr gewährleistet. Schmugglern wäre ein zollfreies Tor in die EU geöffnet. Mit diesem Argument könnte Frankreich zu Recht die Einfuhr irischer Produkte in die EU stoppen. Die Regierung in Paris könnte die Häfen in Calais und Dünkirchen anweisen, kein irisches Rindfleisch und keine irische Butter mehr auf den Kontinent zu lassen.

Warum der französische Präsident das tun sollte? Innenpolitisch könnte ihm das nutzen, denn Frankreichs Landwirte, die ab und an vielleicht gelbe Warnwesten anziehen, könnten mehr Fleisch und Milch in die anderen EU-Staaten verkaufen. Irland wäre damit vom Binnenmarkt abgeschnitten. Geht es nach den EU-Spitzen, soll es so weit natürlich nicht kommen. Aber dass allein ein solches Planspiel diskutiert wird, verdeutlicht den Ernst der Lage. Und den Druck, der Irland nun droht.

Zwei Monate zusätzlich könnte die EU wohl ohne Probleme gewähren

Weil zurzeit alles recht unberechenbar ist, bereitet sich die EU weiter auf ein No-Deal-Szenario vor. Um ein Chaos an Häfen und Airports zu vermeiden, werden in den Mitgliedsstaaten entsprechende Vorkehrungen getroffen. Wie gesagt, am liebsten würde die EU einen ungeordneten Brexit vermeiden. Auch ein weiterer Sondergipfel in Brüssel wäre möglich. Doch der Wille, einen solchen einzuberufen, ist in der EU-Spitze zurzeit nicht erkennbar. Es müsste schon etwas geben, über das es sich zu verhandeln lohnt, heißt es in Brüssel - inklusive der Aussicht, dass es dafür im britischen Unterhaus eine Mehrheit gibt. Die EU will deshalb erst einmal abwarten, welche innenpolitische Dynamik sich in London entwickelt. Je nachdem wäre es ja möglich, den Austrittsprozess nach Artikel 50 des EU-Vertrags zu verlängern.

Zwei weitere Monate könnte die EU wohl ohne allzu große Probleme gewähren. Danach aber drohen Schwierigkeiten. Ende Mai wird ein neues Europaparlament gewählt, Anfang Juli soll sich das neue Gremium konstituieren. Bislang ging man in Straßburg davon aus, dass die Briten dann nicht mehr dabei sind. Es ist sogar schon beschlossen, was mit den bislang 73 britischen Sitzen passieren soll: 27 sollen auf andere Länder verteilt werden, die bislang im Vergleich unterrepräsentiert waren, Spanien etwa oder Frankreich. Der Rest soll erst einmal eingespart werden.

Was aber, wenn die Briten zum Zeitpunkt der Europawahl noch EU-Mitglied sind? Nehmen sie dann daran teil? Die juristischen Dienste der Kommission und des Rates loten schon aus, was in dieser Frage möglich wäre. Manfred Weber, Spitzenkandidat der Christdemokraten für die Europawahl, erteilte solchen Plänen allerdings schon vor dem Votum eine Abfuhr: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich den Europäern erklären kann, dass ein Land, das die EU verlassen will, an der Zukunftsgestaltung des Kontinents für die nächsten fünf Jahre teilnimmt."

Im Europäischen Parlament wird deshalb noch eine andere Variante diskutiert, wie die verfahrene Situation in Großbritannien aufgelöst werden könnte, ein zweites Referendum. Für diese Idee gilt allerdings umso mehr, was aus Kontinentaleuropa schon seit Wochen über den Ärmelkanal schallt: Es ist an den Briten zu entscheiden, was sie wollen.

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