Austritt aus der EU:Ratlos Richtung Brexit-Verlängerung

Britain's Prime Minister Theresa May reacts after the results of the vote on Brexit deal in Parliament in London

Planlos: Theresa May und ihre konservativen Mitstreiter am Dienstagabend im Unterhaus.

(Foto: REUTERS)
  • Für den Brexit zeichnet sich eine Verlängerung über den 29. März hinaus ab.
  • Bis zu den Europawahlen wäre das kein großes Problem, die EU würde den Aufschub vermutlich gewähren.
  • Es ist aber auch möglich, dass Premier May den Deal mit der EU ein drittes Mal vor das Unterhaus bringen wird.

Von Daniel Brössler, Björn Finke und Alexander Mühlauer

Die britische Premierministerin wirkte erschöpft. Theresa Mays Stimme war so heiser, dass zu befürchten war, sie würde bis zum Ende dieser Rede nicht durchhalten. Einer Rede nach einer bitteren Niederlage - wieder einmal. Am Dienstagabend stimmte das britische Parlament erneut gegen den Austrittsvertrag, auf den sich London und Brüssel geeinigt hatten. May drückte ihr Bedauern aus und umriss, was nun geschehen soll. Wie erwartet sprach sich das Unterhaus am Mittwochabend gegen einen ungeregelten Austritt ohne gültiges Abkommen aus; deshalb dürfen die Abgeordneten an diesem Donnerstag nun darüber entscheiden, ob May die EU um eine Verschiebung des Brexit bitten soll. Bisher ist die Scheidung für den 29. März geplant.

May hält nichts von einem Aufschub, das machte sie in ihrer Rede klar. Für eine Verschiebung zu stimmen, "löst nicht unser Problem", sagte die Konservative. "Die EU wird wissen wollen, wie wir so einen Aufschub nutzen wollen. Das Unterhaus wird diese Frage beantworten müssen." So sieht man das auch in Brüssel. Und neben der Frage, wofür eine Verlängerung gut sein soll, gibt es noch eine weitere: Wie lange soll der Austrittsprozess dauern?

Bis zu den Europawahlen vom 23. bis 26. Mai wäre es aus EU-Sicht kein großes Problem. Ist Großbritannien aber zu diesem Zeitpunkt immer noch Mitglied der Europäischen Union, müsste das Land reguläre Wahlen ausrichten. Genau das will May verhindern und dürfte deshalb wohl eine kurze Verlängerung bis zur Europawahl ins Auge fassen. Ob die britische Regierung bei der Abstimmung am Donnerstag ein Enddatum vorgibt, ist offen. Abgeordnete könnten auch versuchen, der Premierministerin mit Änderungsanträgen Vorgaben zu machen. Es gilt aber als sehr unwahrscheinlich, dass es für einen langen Aufschub eine Mehrheit gäbe. Die Bürger müssten in dem Fall fast drei Jahre nach dem EU-Referendum bei Europawahlen mitstimmen - für so etwas wollen die meisten Abgeordneten lieber nicht verantwortlich gemacht werden.

Auch für die EU wäre das ein Problem: Denn wenn die Briten an der Europawahl teilnehmen, dürften ihre Abgeordneten auch den neuen EU-Kommissionspräsidenten mitwählen und müssten wohl oder übel einen Kommissar nach Brüssel schicken. Politisch mag das alles nur schwer vorstellbar sein, rechtlich gibt es aber bislang keinen Ausweg. EU-Chefunterhändler Michel Barnier wirkt bei seinem Auftritt am Mittwochvormittag fast ein wenig hilflos, als er im Europäischen Parlament fragt: "Eine Verlängerung der Verhandlung - um was zu tun?"

In dieser Situation richten sich die Augen wie gewöhnlich auch Richtung Berlin, der Hauptstadt des größten EU-Landes. In der Sitzung des Kabinetts wird Mays Abstimmungsniederlage am Dienstagabend aber erstaunlich kurz abgehandelt. Es herrscht Ratlosigkeit und auch Ermüdung. Bundeskanzlerin Angela Merkel ermahnt die Minister, sich mit Spekulationen zurückzuhalten und die Ergebnisse der beiden entscheidenden Abstimmungen im Unterhaus abzuwarten. So äußert sie sich später auch öffentlich. Es sei "jetzt an der britischen Seite, also am britischen Parlament", festzulegen, ob man überhaupt ein Abkommen möchte oder ob man ohne Abkommen austreten wolle, sagte sie vor der Abstimmung. Ziel bleibe, "dass es einen geordneten Austritt Großbritanniens gibt".

Ein Aufschub um Jahre wird sehr skeptisch gesehen

Einer eher technischen Verzögerung des Austritts um wenige Wochen würde man sich in Berlin wohl nicht entgegenstellen. Größte Skepsis allerdings herrscht gegenüber einem Aufschub um mehrere Jahre, wenn er nicht gut begründet ist. Selbst Industrievertreter halten davon wenig aus Sorge, dass dadurch nur die Phase der Unsicherheit verlängert wird. "Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende", ist zu hören. Die Geduld jedenfalls ist so gut wie erschöpft. "Wir sind ja bis an die Grenzen des Erträglichen gegangen", sagte Europa-Staatsminister Michael Roth (SPD) im Deutschlandfunk. Letztlich gebe es nur zwei Kernbedingungen: die Integrität des Binnenmarktes und die Vermeidung einer neuen Grenze zwischen Irland und Nordirland. Von denen aber werde die EU nicht abrücken.

Wenn sich Merkel und die anderen Staats- und Regierungschefs in der kommenden Woche zum EU-Gipfel in Brüssel treffen, wollen sie vor allem eines vermeiden: direkte Verhandlungen mit May. "Die Verständigung über die Parameter einer möglichen Verlängerung muss vorher stattfinden", sagt ein EU-Diplomat. Das werde allerdings nicht einfach, denn es gebe "ein breites Meinungsspektrum" in dieser Frage. Beim Treffen der EU-Botschafter am Mittwoch wagt sich zwar noch niemand so richtig aus der Deckung, aber klar ist, dass allen voran Paris eine harte Linie gegenüber London verfolgt. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, der zu Hause unter dem massiven Druck von Populisten steht, zeigte sich schon bislang weitaus unnachgiebiger als Merkel. An der Seite der Kanzlerin steht eher der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. Sein Land wäre von einem No-Deal-Brexit wirtschaftlich mit am meisten betroffen. Und so wird in Den Haag bereits die Idee eines Brexit-Aufschubs von bis zu zwei Jahren diskutiert.

Die EU würde damit aber das Risiko eingehen, den Briten das zu geben, was sie von Anfang an wollten: parallele Verhandlungen über das Austrittsabkommen und die künftigen Beziehungen. Um das zu verhindern, müsste die EU darauf bestehen, den Scheidungsvertrag unangetastet zu lassen. Dann könnten sich, so die Hoffnung in manchen EU-Hauptstädten, die Briten endlich klar darüber werden, welches Verhältnis sie in Zukunft zur EU haben wollen. Noch lieber wäre es den Staats- und Regierungschefs allerdings, wenn sich die Premierministerin aus ihrer selbst verschuldeten Lage befreien könnte.

Eine Möglichkeit, die Blockade in London aufzulösen, wäre, dass May auf die größte Oppositionspartei Labour zuginge. Die Sozialdemokraten streben einen weicheren Brexit an; sie wollen, dass das Königreich dauerhaft in einer Zollunion mit der EU bleibt. So eine enge Anbindung würde es auch vereinfachen, den umstrittenen Backstop für Nordirland überflüssig zu machen. Diese Klausel im Austrittsvertrag soll verhindern, dass jemals Zollkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland nötig werden. Vielen Anhängern eines harten Brexit in Mays konservativer Fraktion missfällt die Klausel. Wegen dieser Abweichler findet die Premierministerin bisher für den Vertrag keine Mehrheit im Parlament.

Oder opfert Theresa May sich selbst?

May lehnt eine Zollunion bislang ab. Würde sie auf Labours Kurs umschwenken, würde sie viele ihrer konservativen Abgeordneten vergrätzen. Allerdings stimmten diese Anhänger eines harten Brexit ja ohnehin gegen das Abkommen. May würde die Spaltung ihrer Partei riskieren, aber als Lohn vermutlich genug Stimmen der Sozialdemokraten erhalten, um den Vertrag durch das Parlament zu boxen.

Das Brexit-Abkommen müsste für den neuen Kuschelkurs nicht geändert werden. Das 585 Seiten starke Dokument beschäftigt sich gar nicht damit, ob das Königreich dauerhaft in Zollunion oder Binnenmarkt bleibt und ob Einwanderung aus der EU begrenzt werden darf. Die Verhandlungen darüber beginnen erst nach einem geordneten Austritt, in der Übergangsphase.

Eine Alternative wäre, dass May versucht, die Brexit-begeisterten Abweichler bei den Konservativen doch noch vom Abkommen zu überzeugen: indem sie sich selbst opfert. Sie könnte versprechen zurückzutreten, wenn der Vertrag nur endlich gebilligt wird. Die Brexiteers müssten dann zwar den verhassten Backstop durchwinken, könnten aber sicher sein, dass die wirklich wichtigen Gespräche mit der EU - die über die künftigen Beziehungen - nicht May führt, sondern einer der ihren.

Die Labour-Opposition fordert hingegen, das Gezerre durch Neuwahlen zu beenden. Dafür wäre ein längerer Brexit-Aufschub nötig. Umfragen sehen allerdings die Regierungspartei stabil vorne. Labour-Chef Jeremy Corbyn würde zur Not auch ein neues Referendum unterstützen, wenn der seiner Meinung nach schädliche Brexit-Kurs Mays nicht anders zu stoppen ist. Bei einer Volksabstimmung oder bei Neuwahlen wäre fraglich, für welchen Brexit-Kurs Labour werben würde.

Vielleicht reicht Theresa May aber auch schon die Drohung mit Neuwahlen oder einem zweiten Brexit-Referendum, um am Ende doch noch genügend konservativen Abweichlern den Austrittsvertrag schmackhaft zu machen. Die Premierministerin könnte das Abkommen unverändert ein drittes Mal vorlegen und die Brexit-Enthusiasten vor die Wahl stellen, sich entweder zusammenzureißen oder zu riskieren, dass ihr geliebter Austritt nach Wahlen oder einer Volksabstimmung ganz abgeblasen wird.

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