EU-Austritt Großbritanniens:Das Brexit-Drama verlagert sich nach Brüssel

EU-Austritt Großbritanniens: Was tun? Die britische Premierministerin hat von ihren EU-Kollegen die Verlängerung des Brexit-Verfahrens bis zum 30. Juni erbeten.

Was tun? Die britische Premierministerin hat von ihren EU-Kollegen die Verlängerung des Brexit-Verfahrens bis zum 30. Juni erbeten.

(Foto: Mark Duffy/AFP)
  • Nachdem Theresa May am Freitag offiziell beantragt hat, den Brexit bis zum 30. Juni zu verlängern, findet am Mittwoch ein Sondergipfel in Brüssel statt.
  • Ratspräsident Donald Tusk plädiert für eine "flexible Verlängerung" von bis zu zwölf Monaten und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wirbt um Geduld.
  • Emmanuel Macron aber führt die Fraktion der Bockigen an. Er verlangt einen klaren Plan aus London.

Von Stefan Kornelius

Wer zu Beginn des Brexit-Verfahrens vor zwei Jahren mit den Regeln der Europäischen Union vertraut war und den Kalender zur Hand nahm, der wusste: Dies wird enden wie alle großen Dramen der Gemeinschaft - in der Verlängerung, in Nachtsitzungen, Sonderräten, vielleicht sogar in einer Sequenz von Gipfeln, wie sie Brüssel zuletzt beim griechischen Schulden-Krimi 2015 erlebt hat. Nun ist der 29. März, der eigentliche Brexit-Tag, verstrichen, Großbritannien hat die erste Verlängerung erbeten, in Brüssel wird es am Mittwoch einen Sondergipfel geben. Und die erfahrenen Gipfelbesucher wissen: Da geht noch mehr.

Tatsächlich sind für die Brüssler Entscheidungstage nun die Truppen in Stellung gegangen. Premierministerin Theresa May hat an diesem Freitag offiziell beantragt, das Austrittsverfahren bis zum 30. Juni zu verlängern. Außerdem ließ sie formal wissen, dass die Europawahl im Königreich vorbereitet werde, obwohl weder Regierung noch EU das Interesse hätten, dass die ausscheidende Nation tatsächlich Abgeordnete nach Straßburg schicke. Die von der EU eingeforderte Klarheit kann May vermutlich auch am Mittwoch nicht verschaffen: Wie exakt möchte sie die Zeit nutzen, um den Austritt hinzubekommen?

Auf der EU-Seite teilen sich unterdessen die Lager. Ratspräsident Donald Tusk plädierte für eine "flexible Verlängerung" von bis zu zwölf Monaten: Diesen Vorschlag werden die EU-Botschafter nun über das Wochenende diskutieren. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wirbt um Geduld, besonders erfahrene Streiter wie der Abgeordnete Elmar Brok wollen gar kein Zeitlimit mehr verhängen und den Briten einfach mitteilen: Kommt wieder, wenn ihr wisst, was ihr wollt.

So einfach wird es aber nicht gehen. In London wächst die Sorge, dass ein ungewollter und damit chaotischer Brexit durchaus noch möglich ist, auch wenn das Parlament in dieser Woche in historisch einmaliger Weise ein Gesetz gegen den Willen der Regierung beschlossen hat, das exakt diesen harten Brexit verbietet.

Zwar haben sich die Gewichte in London verschoben - die Parlamentsfraktionen beginnen sich zu spalten, May hat Gespräche mit der Opposition begonnen. Das eigentliche Problem sitzt nun aber auf der anderen Seite des Kanals und heißt Emmanuel Macron. Die Fraktion der Bockigen wird vom französischen Präsidenten angeführt, der zuletzt ein paar zusätzliche Tage für Verhandlungen zugestehen wollte und einen klaren Plan aus London verlangt. May weiß indes Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrer Seite, die gerade noch einmal in Dublin versichert hat, dass sie alles für einen geregelten Austritt tun werde.

Das Drama wird also endgültig nach Brüssel verlagert, die legendäre Einigkeit in Sachen Brexit steht auf dem Spiel. Und weil auch den europäischen Regierungschefs das Hemd näher sitzt als der Rock, quält sie ein zusätzliches Problem: Wie wirkt sich eine Verlängerung und damit eine Teilnahme der Briten an der Europawahl auf das eigene Land aus? Wird das zu erwartende Getöse auf der Insel so stark in die eigenen Wahlkämpfe hineindröhnen, dass überall auf dem Kontinent die Populisten Aufwind bekommen? Werden die Briten mit neuen Abgeordneten alte Probleme ins Parlament tragen, Sitze wegnehmen und Entscheidungen blockieren?

Europawahl würde zur Neuauflage des Referendums stilisiert

In London haben die Spekulationen ganz andere Fantasien ausgelöst. Nähmen die Briten an der Europawahl teil, man würde wohl die höchste Beteiligung aller Zeiten registrieren - und das Land bekäme durch die Hintertür das von vielen ersehnte zweite Referendum geliefert. Denn genau dazu würde die Wahl stilisiert: zur Neuauflage der Volksbefragung vom 23. Juni 2016. Brexiteers wie Remainer würden mobilisieren, die Briten würde noch einmal um ihre Stimme gebeten.

Die großen britischen Parteien stürzt eine Abstimmung fürs Europaparlament freilich ins Dilemma. Tories wie Labour haben sich so nachhaltig zerfleischt, dass sie für die Europawahl mit mächtigen Abspaltungen rechnen müssen. Im Parlament hat sich bereits ein Interessenbündnis über Parteigrenzen hinweg gebildet, die "Gruppe der Unabhängigen". Ein knappes Dutzend Abgeordnete gehört ihr an, und einen Parteinamen hat diese Gruppe ebenfalls schon angemeldet. "Change UK" heißt die Plattform - irgendwo müssen die sechs Millionen Stimmen der Online-Petition von vergangener Woche ja ihre politische Heimat finden.

Zuvor aber hat die Dramaturgie den Gipfel-Klimax in Brüssel vorgesehen. Scheitert May mit ihrer Bitte an den 27 Kollegen, dann bleiben ihr etwa 48 Stunden, um im Unterhaus doch noch eine Mehrheit für den Brexit-Vertrag zu bekommen, der schon dreimal abgelehnt worden ist. Ansonsten werden die Briten am kommenden Freitag, punkt Mitternacht, die EU verlassen haben.

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