Brexit:Die Rede von der Kehrseite

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schwärmt von London. Sie hat für Premier Boris Johnson aber auch die Botschaft dabei, dass es an ihm liegt, ob die Beziehungen künftig eng oder eher distanziert sind.

Von Alexander Mühlauer, London

Brexit: Beifall von den Ökonomen: Ursula von der Leyen nach der Rede an der London School of Economics.

Beifall von den Ökonomen: Ursula von der Leyen nach der Rede an der London School of Economics.

(Foto: Adrian Dennis/AFP)

- Ursula von der Leyen beginnt ihren Vortrag mit einer Liebeserklärung. Seit sie in den 1970ern ein Jahr in London studierte, sei sie dem Vereinigten Königreich in tiefer Bewunderung verbunden, sagt die Kommissionspräsidentin. Sie habe sich damals in diese Stadt verliebt. Und deshalb sei es ein Vergnügen, wieder an jenen Ort zurückzukommen, wo sie einst gelernt habe, die Freiheit zu atmen. Von der Leyen steht also am Mittwoch in einem Hörsaal der renommierten London School of Economics und schwärmt von Plattenläden in Camden und Bars in Soho. Sie rühmt den britischen Sinn für Humor, das Erbe Churchills und den Pragmatismus, mit dem Großbritannien Europa zusammengehalten hat. Das war es dann aber auch mit der Charmeoffensive. Auf die freundlichen Worte folgt die bittere Realität: der Brexit.

Wenn Großbritannien die Europäische Union am 31. Januar verlässt, beginnen die Verhandlungen über die künftige Beziehung. Wie es aussieht, dürften diese noch weitaus schwieriger werden als jene über den Austrittsvertrag. Das liegt einerseits an den unterschiedlichen Interessen der EU-Staaten, die nun zum Vorschein kommen dürften. "Die bisherige Einheit der EU-27 wird es bei den Gesprächen über ein Freihandelsabkommen nicht mehr geben", sagt ein EU-Diplomat. Hinzu kommt der von London gesetzte Zeitdruck. Boris Johnson hat klar gemacht, dass ein Vertrag mit der EU bis Ende des Jahres fertig sein müsse. Eine Verlängerung der sogenannten Übergangsfrist schließt der Premier aus. Diese beginnt am 1. Februar und läuft bis Jahresende. So lange ändert sich für Bürger und Unternehmen de facto nichts. Johnson könnte diese Phase um ein oder zwei Jahre verlängern. Er müsste der EU nur bis spätestens 1. Juli Bescheid geben.

Von der Leyen macht am Mittwoch keinen Hehl daraus, dass ihr das am liebsten wäre. Denn ohne Verlängerung sei die Frist zur Klärung der künftigen Beziehungen beider Seiten "sehr, sehr eng", sagt die Kommissionschefin. Und fügt warnend hinzu: Es sei "im Grunde unmöglich", bis Ende des Jahres alle Themen zu bearbeiten. "Wir sind bereit, Tag und Nacht hart zu arbeiten, um so viel wie möglich zu erledigen in der Zeit, die wir haben", erklärt von der Leyen. Doch ohne Fristverlängerung müsse man Prioritäten setzen. In London stehen vor allem drei Themen ganz oben auf der Liste: Finanzdienstleistungen, Fischerei und Datenschutz. Dem Vernehmen nach will Johnson einen guten Deal für die Londoner City erreichen und der EU im Gegenzug weiter Zugang zu britischen Fischgründen gewähren. Die EU wiederum, das macht von der Leyen in London deutlich, ist bereit zu einem Abkommen "ohne Zölle, Quoten und Dumping".

Doch um das zu bekommen, muss sich Großbritannien an das sogenannte Level Playing Field halten. Dieser Fachbegriff besagt, dass britische Unternehmen keine unfairen Vorteile gegenüber EU-Konkurrenten haben dürfen, etwa durch niedrigere Umwelt- oder Sozialstandards. Wenn Großbritannien künftig von EU-Regeln abweichen wolle, könne es nicht den besten Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt bekommen, sagt von der Leyen. Ihre Botschaft an Johnson ist eindeutig: "Je größer die Abweichung, desto distanzierter muss die Partnerschaft sein."

Brüssel bereitet sich vorsichtshalber weiter auf den No-Deal-Fall vor

Es geht dabei nicht nur um Wirtschaft. Die Kommissionspräsidentin nennt in London auch Klimaschutz, Energie, Transport, Raumfahrt und Sicherheit. Sie strebe in allen Feldern eine möglichst enge Zusammenarbeit an. Doch zur Wahrheit gehöre, "dass der Brexit keine der bestehenden Herausforderungen lösen wird, weder für die EU noch für Großbritannien". Nach dem Austritt könnten die britischen Beziehungen zur EU nicht mehr so eng sein wie zuvor. "Jede Entscheidung hat auch eine Kehrseite", sagt von der Leyen. Am Ende ihrer Rede bekommt sie langen Applaus. Sie ist hier an der London School of Economics unter Gleichgesinnten. Die Mehrheit der Studierenden ist klar gegen den Brexit.

Nach ihrem Auftritt im Hörsaal wird von der Leyen noch in 10 Downing Street erwartet. Dem Vernehmen nach bekommt Johnson in etwa dieselbe Botschaft wie die Studenten zu hören: Beharrt London darauf, bis Ende des Jahres einen Freihandelsvertrag zu schließen und zu ratifizieren, wird es lediglich ein abgespecktes Abkommen geben. Im Kern bleibt für die Verhandlungen nur ein gutes halbes Jahr. Spätestens im Herbst muss der Vertrag fertig sein, damit er noch vom britischen Unterhaus und vom Europäischen Parlament ratifiziert werden kann. Je nachdem, welche Bereiche das Abkommen umfasst, müssen auch nationale oder regionale Parlamente der EU-Staaten über den Vertrag abstimmen. Da völlig offen ist, ob das in dieser kurzen Zeit gelingt, werden in Brüssel und London bereits weitere Vorkehrungen getroffen - für einen No-Deal-Brexit.

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