Süddeutsche Zeitung

Brexit:Der Ärmelkanal ist kein Ozean

Die Briten gehen. Die Voraussetzungen für eine britische Ausnahmestellung in Europa sind allerdings fragwürdig. Die EU sollte ihre Türen offen halten.

Kommentar von Stefan Ulrich

Brexit-Gegner zitieren gerne den Aufruf Winston Churchills, "Vereinigte Staaten von Europa" zu schaffen. Von Churchill stammt jedoch auch ein Satz, auf den sich Brexit-Befürworter berufen: Großbritannien sei "mit Europa, aber nicht Teil dessen". Wer den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU verstehen will, dessen Modalitäten die Staats- und Regierungschefs am Sonntag beschlossen, muss von dieser Ambivalenz ausgehen. Die meisten Briten möchten über die Geschicke des Kontinents vor ihrer Haustüre mitbestimmen, was aus der historischen Erfahrung heraus mehr als verständlich ist. Doch sie fühlen sich nicht als Bestandteil dieses Kontinents. Daraus erklärt sich ihre spannungsreiche, viereinhalb Jahrzehnte währende Mitgliedschaft in der Europäischen Union - und der schmerzhafte Abschied.

Es gibt zwei Motivquellen, in der EU mitzumachen: das Herz und den Verstand. Herzenseuropäer sind solche, die keine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellen müssen, um sich für die europäische Einigung zu begeistern. Sie sehen sich als Europäer, als europäische Patrioten sogar. Sie empfinden das Einigende stärker als das Trennende, und sie fühlen sich den Menschen in der Bretagne, Kalabrien oder Litauen prinzipiell nicht weniger verbunden als jenen in Thüringen, der Walachei oder Wales.

Die große Mehrheit der Pro-Europäer folgt dagegen vor allem einem rationalen Kalkül: Sie betrachten die EU als Instrument, um Wohlstand zu schaffen, Frieden zu garantierten und sich in der Welt zu behaupten. Für die meisten Briten war die EU-Mitgliedschaft stets eine solche Kopf-Entscheidung. Es ging ihnen vor allem um Handel und Wirtschaftswachstum. Sie fragten sich wie die Aktionäre eines Unternehmens: Wie viel stecke ich hinein, und wie viel hole ich heraus? Den Brexit-Verfechtern gelang es beim Volksentscheid im Juni 2016, eine knappe Mehrheit der Bürger glauben zu lassen, die EU-Mitgliedschaft sei ein Minusgeschäft. Der Austritt dagegen verspreche Gewinn.

Die Europagegner konnten dabei ein Grundgefühl nutzen, das im zweiten Churchill-Zitat zum Ausdruck kommt: Das Inselreich gehöre wegen seiner Geschichte, wegen seiner Stellung als früherer Weltmacht und aufgrund der Tradition der politischen Mäßigung nicht zum Kontinent. Diese Überzeugungen sind jedoch falsch.

Die Geschichte eint Briten und Rest-Europäer weit mehr, als sie sie trennt. Großbritannien wurde, wie andere europäische Regionen, Teil des römischen Reichs. Es wurde christianisiert und kämpfte später im mörderischen Ringen des Kontinents um die Vormachtstellung einer Nation oder Ideologie entscheidend mit. Seit 1714 stellte das Haus Hannover die britischen Monarchen. Danach folgte das ebenfalls deutschstämmige Adelsgeschlecht Sachsen-Coburg und Gotha, das sich nun Windsor nennt.

Die Voraussetzungen einer britischen Ausnahmestellung in Europa sind fragwürdig

Auch dass das Land einst Weltmacht war, mit großem Kolonialreich, ist keine britische Besonderheit; es gilt genauso für Spanien oder Frankreich. Und dass die Briten sich angeblich durch politische Mäßigung abheben, kann man ebenfalls anders sehen. Im Vergleich mit Staaten, die von Nazis, Faschisten oder Kommunisten beherrscht wurden, stimmt das zwar, heute aber wirkt Großbritannien von der Parteien Gunst und Hass noch stärker zerrissen, als viele andere Länder der EU.

Die Voraussetzungen einer britischen Ausnahmestellung in Europa sind fragwürdig. Und die nahe Zukunft wird zeigen, dass eine Splendid isolation keineswegs so großartig ist. Die USA unter Donald Trump sind den Briten kein verlässlicher Beschützer mehr. Bessere Handelspartner als die EU-Länder werden sie nicht finden. Und Freiheit und Souveränität, die ihnen zu Recht so wichtig sind, können sie nicht mehr alleine verteidigen.

All dies wird - egal wie das Brexit-Drama im Parlament zu London in den kommenden Wochen ausgeht - eine Mehrheit der Briten künftig wieder zu Vernunft-Europäern machen. Die EU kann diesen Prozesse unterstützen. Sie hat sich in den Brexit-Verhandlungen als unerwartet einig und durchsetzungsstark erwiesen. Dies sollte ihr die Souveränität geben, künftig auf die Briten zuzugehen. Der Ärmelkanal ist kein Ozean. Manche Menschen können ihn sogar durchschwimmen. Und die EU sollte den Briten, sei es als Gäste oder wieder als Mitglieder, immer offenstehen.

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Quelle:
SZ vom 26.11.2018/jps
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