Süddeutsche Zeitung

Brexit-Debatte:Großbritannien verwandelt sich in Ukip-Land

Früher war Großbritannien pragmatisch und weltoffen. Doch seit dem Brexit-Votum gibt die Regierung mit ihrem Nationalismus Ausländern das Gefühl, bestenfalls geduldet zu sein.

Kommentar von Christian Zaschke

Man kann nur ahnen, wie groß die Enttäuschung bei der britischen Regierung gewesen sein muss, als die Beamten des Innenministeriums jüngst entdeckten, dass man das Gros der EU-Ausländer auch nach dem Brexit nicht loswird. 80 Prozent der in Großbritannien lebenden Kontinentaleuropäer werden zum Zeitpunkt des Austritts aus der Union mehr als fünf Jahre im Land sein, was bedeutet, dass sie das Recht haben zu bleiben.

Die Frage ist mittlerweile allerdings eher, ob sie das überhaupt wollen. Die Regierung tut alles dafür, ihnen das Gefühl zu geben, bestenfalls geduldet zu sein. Wer sich unter den Ausländern umhört, spürt Enttäuschung, Wut und Trotz. Nicht wenige besonders gut qualifizierte EU-Bürger sagen: Dann macht euren Mist halt alleine.

Die Stimmung im Vereinigten Königreich hat sich nach dem Votum für den Brexit gewandelt. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass dies nicht mehr das gleiche Land ist. Großbritannien stand immer für Weltoffenheit. Es war das Land, dessen Bevölkerung sich durch eine einzigartige Mischung aus Anstand und Irrsinn, Wahnsinn und Verbindlichkeit, Stolz und Stoizismus auszeichnete. Man musste es einfach lieben. In diesen Tagen wirkt Großbritannien aber nun wie das Land des kleinen Geistes, in dem es fast zum guten Ton gehört, sich mindestens spöttisch über Ausländer zu äußern.

Der Nationalismus der Regierung verrät den Geist des Landes

Natürlich sind nicht alle Briten über Nacht fremdenfeindlich geworden. Natürlich hat sich nicht der Charakter einer Nation, falls es so etwas gibt, von einem Tag auf den anderen geändert. Doch es herrscht ein Tonfall wie noch nie. Es ist, als hätten im Referendum nicht 52 Prozent der Briten für den EU-Austritt gestimmt, sondern 99 Prozent. Die Regierung hat beschlossen, dass dieses Votum vor allen Dingen bedeutet, dass die Zahl der Ausländer sinken muss, und sie lässt keine Gelegenheit aus, das zu betonen.

Innenministerin Amber Rudd zählte zu den leidenschaftlichsten Kämpferinnen für die EU, sie debattierte mit Verve. Jetzt erscheint es, als leide sie unter dem Stockholm-Syndrom, bei dem Geiseln sich mit den Zielen ihrer Entführer identifizieren. Sie hat ernsthaft vorgeschlagen, Firmen sollten veröffentlichen, wie viele Ausländer sie beschäftigen. Warum? Damit man mit dem Finger auf die zeigen kann, die nicht genügend Briten anstellen.

Diese Idee mit den Ausländer-Listen hat die Regierung zwar einstweilen wieder kassiert, weil das selbst vielen Befürwortern des Brexit unheimlich wurde. Aber es ist mehr als befremdlich, wie unverblümt die Premierministerin Theresa May sagt, ausländische Ärzte dürften selbstverständlich weiterhin bleiben - bis es genügend britische Ärzte gebe. Ein Viertel der Ärzte auf der Insel kommt aus dem Ausland, und diesem Viertel hat May zu verstehen gegeben, dass es gnädigerweise noch ein Weilchen Leben retten darf, aber bitte Platz machen soll, sobald genügend einheimische Ärzte da sind. Effizienter hätte May die Stimmung im überlasteten Gesundheitsdienst kaum vergiften können. Und nicht nur dort.

Nigel Farages Grinsen gehörte lange zur Folklore

Seit dem Referendum hat die Zahl der Übergriffe gegen Ausländer zugenommen, ein Pole ist zu Tode geprügelt worden, weil er polnisch sprach. Das habe nichts mit der Abstimmung zu tun, sagen die Brexit-Befürworter nach jedem neuen Übergriff. Es hat aber in Wahrheit alles mit der Abstimmung zu tun: Die Wahl für den Brexit hat etwas an die Oberfläche gebracht, das gut verborgen schlummerte. Die Büchse der Pandora ist geöffnet.

Einen großen Anteil daran hat die rechtspopulistische UK Independence Party (Ukip) von Nigel Farage. Seit mehr als 20 Jahren haben Farage und seine Gefährten Abgrenzung und Nationalismus gesät. Diese Saat geht nun auf. Die Ukip mag nur über einen einzigen Abgeordneten verfügen, doch da sie in den Tories von Theresa May perfekte Erfüllungsgehilfen gefunden hat, ist Großbritannien zum Ukip-Land geworden. Das selbstzufriedene Grinsen von Nigel Farage gehörte lange zur Folklore. Jetzt ist es das hässliche Gesicht eines Landes, das kaum wiederzuerkennen ist.

Zu hoffen ist, dass der neue, von der Regierung so offen zur Schau getragene Nationalismus vor allem der Unsicherheit geschuldet ist, die daraus resultiert, dass niemand weiß, was der Brexit tatsächlich bedeutet. Dass es sich um Getöse handelt, das vor allem von den anstehenden Problemen ablenken soll. Diese Hoffnung besteht nicht zu Unrecht. Wer sich privat mit Brexit-Befürwortern unterhält, bekommt oft zu hören: So haben wir das nicht gewollt. Es wäre gut, wenn diese Botschaft bis nach Westminster dringt und an der Spitze des Landes wieder das einzieht, was Großbritannien seit jeher ausgezeichnet hat: pragmatische Vernunft.

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SZ vom 12.10.2016/kjan
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