Brexit-Debatte:Cameron, hilf Europa!

Britain's Prime Minister David Cameron addresses a news conference in Sofia

David Cameron bei einem Besuch in Bulgarien.

(Foto: REUTERS)

Plötzlich erscheinen die britischen Vorschläge für eine EU-Reform nicht mehr unerfüllbar. Denn alle wissen: Ein Austritt wäre für Europa schlimmer als alle bisherigen Krisen.

Kommentar von Stefan Kornelius

Wenn eine Marke abgeschlafft ist, dann schlägt die Stunde der Marketing-Leute, die dem Produkt mit einem rebranding neuen Glanz verleihen. So ist es vor vielen Jahren dem nahezu bankrotten Computerhersteller Apple ergangen, so ergeht es heute dem einst altbackenen Trenchcoat-Schneider Burberry, dessen Mäntel nun von Emma Watson und anderen vorzeigbaren Menschen getragen werden.

Auf der politischen Bühne zieht gerade der britische Premier David Cameron ein rebranding durch, wie es Europa nur selten erlebt. Eigentlich wollte Cameron den Dezember-Gipfel der EU an diesem Donnerstag nutzen für ein Schlachtfest: wir gegen die, Insel gegen Kontinent, Wahrheit oder Pflicht. Aber darauf wird man warten müssen - und nicht etwa, weil Cameron die Streitlust abhanden gekommen ist. Nein, Erstaunliches tut sich in der Europäischen Union, die offenbar am Jahresende genug hat von ihrer Selbstzerstörung und zumindest einmal eine Sache gut zu Ende bringen will.

Camerons Reformwünsche sind erfüllbar - weil der Ton stimmt

Es geht um den Brexit: die britischen Wünsche nach Vertragsänderungen, die erfüllt werden müssen, wenn ein Austritt des Landes per Referendum abgewendet werden soll. So jedenfalls die bisherige Lesart - eine klassische Erpressungsnummer, wie sie durchaus Tradition hat in der Europäischen Union. Seit einem Jahr aber vermissen die Cameron-Beobachter den punch, den premierministerlichen Fausthieb in Sachen Europa. Könnte es also sein, das die britische Regierung die wichtigste aller Lehren in Europa verstanden hat: Die EU funktioniert nur, wenn alle von ihr profitieren?

Die britische Austrittsdrohung muss man sehr ernst nehmen. Selbstverständlich war es nie, dass sich eine Mehrheit im Lande für den Verbleib in der EU aussprechen würde. Ein Austritt der Briten aber wäre ein verheerender Schlag gegen die EU, schlimmer als jede Euro-Krise oder jeder Flüchtlingsstreit. Er würde nationale Fliehkräfte freisetzen, die vermutlich zum Ende der Union führen. Es ist deswegen kaum überraschend, dass vor allem die Bundesregierung seit Monaten all ihre Energie darauf verwendet, diese Eskalation zu verhindern.

Doch während Angela Merkel & Co. von der Sorge um das große Ganze und die deutsche Einsamkeit nach einem potenziellen Austritt getrieben sind, geht es Cameron um die Autorität in seiner Partei, um nationale Reformwünsche und den Blick der Briten auf diese EU.

Vielleicht waren die europäischen Großkrisen des Jahres 2015 nötig, um diesen britischen Blick zu würdigen. Denn in der Tat haben sich drei der vier Punkte auf der Londoner Wunschliste ohne große Probleme als erfüllbar erwiesen. Warum? Weil sie plötzlich einem Grundbedürfnis vieler Europäer entsprechen (und weil ihre Umsetzung nicht viel kostet).

So werden die Staaten Europas feststellen, dass es viele Wege zum Glück gibt - eine "immer engere Union der Völker" heißt also nicht unbedingt, dass die Völker auch souveräne Rechte abgeben müssen. Wunsch Nummer zwei: Europa regelt nun auch das Verhältnis zwischen den Staaten mit und ohne Euro. Weil die gemeinsame Währung ihre Kräfte auch auf das Pfund oder die dänische Krone entfaltet, kann man Regeln zum besseren Umgang miteinander entwerfen. Schließlich ist es eine Banalität, Europa ein bisschen mehr Wettbewerb zu verordnen, so wie in Wunsch Nummer drei formuliert. Das bedeutet auch, dass Brüssel nur dort wirken soll, wo es wirken muss.

Selbst der vierte britische Wunsch - keine unmittelbaren Sozialleistungen für innereuropäische Arbeitsmigranten - ist nachzuvollziehen. Die Briten haben kein deutsches Sozialversicherungssystem, sondern teilen die Wohltaten des Staates per Steuererleichterung aus - sofort und ohne Beitragszahlung. Das lässt sich leicht ausnutzen, aber nur schwer abstellen. Hier haben die Briten kein ideologisches Problem mit der EU, sondern ein technisches. Es wird sich lösen lassen.

Diese Lösung scheint aber nur zu gelingen, weil Cameron auch einen Reformbeitrag leistet: Er scheint auf den üblichen Krawall zu verzichten und arbeitet an einer Lösung, die niemanden das Gesicht verlieren lässt. Diese vornehmste aller Tugenden im politischen Europa ist in den vergangenen Jahren verloren gegangen. Umso bemerkenswerter, dass sie nun ausgerechnet mit Hilfe des britischen Wunschzettels wieder eingeführt wird.

Camerons Naturell entspricht diese Zurückhaltung nicht. Fürs heimische Publikum wird er auch noch etwas auf die Pauke schlagen müssen. Offenbar verleiht eine Schlacht ohne Lärm und Rauch zu wenig Glorie. Am Ende aber könnte dies der Premier sein, der mehr für Europa getan hat als die meisten seiner Vorgänger.

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