Brexit:Das Brexit-Votum zwingt die Europäer zur Sinnsuche

  • Nach der Brexit-Entscheidung beginnt die EU nun mit der Zukunftsplanung.
  • Für die Austrittsverhandlungen bestimmt Ratspräsident Tusk eine "Special Task Force".
  • Gleichzeitig wird darüber diskutiert, wie sich die EU in Zukunft verändern muss. Eines wollen viele nicht: mehr Integration.

Von Daniel Brössler und Alexander Mühlauer, Brüssel

Die Sache war besprochen. Schon Wochen vor dem Referendum hatte der britische EU-Kommissar Jonathan Hill seinem Boss Jean-Claude Juncker seinen Rücktritt für den Fall angekündigt, dass das Austrittslager gewinnen würde. Hill, in der Kommission zuständig für Finanzdienstleistungen, zog das als theoretische Möglichkeit in Betracht, aber er glaubte nicht daran.

Wer dem Kommissar in den vergangenen Wochen begegnete, traf einen Optimisten. Die drohende Ungewissheit würde die Bürger mehr abschrecken als die EU, dachte er. Als es dann doch so kam, gab es für Hill kein Zaudern. Er sei "sehr enttäuscht", bekannte der zum EU-Verfechter gewandelte Europa-Skeptiker in seiner Rücktrittserklärung, "aber so funktioniert das in einer Demokratie".

Und so funktioniert das jetzt in Europa. Hill bleibt bis zum 15. Juli im Amt, um sein wichtiges Portfolio an den aus Lettland stammenden Kommissions-Vizepräsidenten Valdis Dombrovskis zu übergeben. Danach wird der britische Stuhl in der EU-Kommission erst einmal leer bleiben. Ob er je wieder besetzt wird, ist nicht gewiss. Gemäß den EU-Verträgen solle Hill "mit einem neuen Mitglied britischer Nationalität" ersetzt werden, schrieb Juncker an den britischen Premierminister David Cameron. Er nannte aber auch die Bedingung. So müsste ein Nachfolger vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Die großen Fraktionen wollen aber, das haben sie bereits klargestellt, für die Briten kein Portfolio mehr. Die neue EU, das Europa der 27, nimmt langsam Gestalt an.

Das Europäische Parlament mahnt zur Eile

Ratspräsident Donald Tusk benannte sogleich den Chef einer neuen "Special Task Force" für den Brexit: Der belgische Diplomat Didier Seeuws soll auf europäischer Seite die Austrittsverhandlungen mit London führen. Bis Ende 2014 war er Kabinettschef des ehemaligen EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy. Am Sonntag dann flogen in Brüssel die europapolitischen Chefberater ein - und zwar aus nur 27 Hauptstädten.

Ihr Job war es, den ohne Cameron geplanten zweiten Tag des am Dienstag beginnenden Gipfels so vorzubereiten, dass die EU nach dem ersten Schock handlungsfähig wirkt. Migrationskrise, Binnenmarkt, Sicherheit - über alle diese Themen müsse gesprochen werden, schrieb Tusk in seiner Einladung zum Gipfel. "Diesen Herausforderungen zu begegnen, ist tatsächlich wichtiger denn je", appellierte er - wohl wissend, dass die Frage, wie der Austritt Großbritanniens organisiert werden kann, alles überlagern würde.

In Brüssel zirkulierte schon am Samstag der Entwurf für eine Resolution des Europäischen Parlaments, in dem zur Eile gemahnt wird. Cameron solle "sofort" - also auf dem Gipfel - den Austrittswunsch seines Landes nach Artikel 50 des EU-Vertrages erklären. Es gelte, "schädliche Unsicherheit für alle Seiten" zu verhindern. Mit einer sofortigen Erklärung der Briten wurde allerdings kaum noch gerechnet.

"Wir erwarten jetzt von der Regierung des Vereinigten Königreichs, dass sie Klarheit schafft und die im Referendum getroffene Entscheidung so schnell wie möglich umsetzt", verlangten am Samstag schon vorsichtiger die in der Berliner Villa Borsig versammelten Außenminister der sechs EU-Gründerstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien und Luxemburg. Es dürfe jetzt, bat der Luxemburger Jean Asselborn, "kein Katz- und Maus-Spiel geben."

Eine vereinte EU, die Cameron die Leviten liest?

Die Linie: Ein paar Monate sollen die Briten bekommen, um sich zu sammeln. Auf keinen Fall aber sollen Verhandlungen vor Eingang des offiziellen Austrittsersuchens beginnen. Eine vereinte EU der 27 also, die Cameron beim Abendessen in Brüssel die Leviten liest? Bereits am Wochenende zeigte sich, dass das nicht einfach werden würde. Zum einen gab es Kritik an der "Grüppchenbildung" des Berliner Borsig-Treffens. Das "falsche Signal" sei davon ausgegangen, beklagte der ehemalige finnische Premier und - bis vor Kurzem noch - Finanzminister Alexander Stubb.

Es müsse darum gehen, mahnte Litauens Außenminister Linas Linkevičius, "wie die strategischen Bindungen" zu Großbritannien aufrechterhalten werden können. Bei vielen aber geht die Geduld zur Neige. "Wenn die Briten wollen, dass wir uns im Guten trennen, dann müssen sie rasch den Austrittsprozess beginnen", warnte der tschechische Europa-Staatssekretär Tomáš Prouza.

"Keine großen Visionen"

Für die EU hängt nun viel davon ab, ob die 27 sich auf eine überzeugende Botschaft an die Bürger verständigen können. Den Rufen nach einer tieferen und schnelleren Integration erteilte der niederländische Ministerpräsident und amtierende EU-Vorsitzende Mark Rutte rasch eine Absage. "Das ist genau die falsche Antwort", sagte er. Die EU sei kein Ziel an sich, sie müsse einen Mehrwert für unser Leben liefern: Jobs, Wachstum und die Kontrolle der Außengrenzen. Den Grund für die Unzufriedenheit vieler Bürger sieht Rutte in einem "Europa der erhabenen Reden".

Ein Europa, das immer wieder große Projekte beginne, die am Ende aber nur kleine Ergebnisse produzierten. Gleichzeitig gebe es lange Debatten über eine Verschiebung der Macht nach Brüssel - doch das führe zu nichts als Zynismus. "Die meisten meiner EU-Kollegen teilen diese Ansicht", sagte Rutte. "Auch sie wollen keine großen Visionen, Konvente und Verträge mehr. Sie sind es leid, diese Worte zu hören - genau wie ich."

Eine Antwort auf die Sinnfrage will die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini dennoch geben. Seit Monaten arbeitet sie - im Auftrag der Mitgliedstaaten - an einer "globalen Strategie" für die EU. Eigentlich war erwartet worden, dass sie wegen des Brexit-Votums die für den Gipfel geplante Präsentation verschiebt. Doch Mogherini entschied sich anders. Gerade jetzt werde die Strategie gebraucht, ließ sie wissen. "Der Sinn, ja die Existenz, unserer Union wird infrage gestellt", schrieb sie im Vorwort des 32-seitigen Papiers, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Kein Staat allein sei stark genug für die Herausforderungen, das Potenzial der EU hingegen sei immer noch "ohne Beispiel".

Die Strategie entwirft die Vision einer EU, die auch als Verteidigungsbündnis ernst genommen wird. "Als Europäer müssen wir größere Verantwortung für unsere Sicherheit übernehmen", heißt es in dem Papier. Und: "Wir müssen bereit und in der Lage zur Abschreckung sein sowie dazu, äußere Bedrohungen zu beantworten und uns gegen sie zu schützen." Zwar sei die Nato zum Schutz ihrer zumeist europäischen Mitglieder da, doch die Europäer müssten "besser ausgerüstet, ausgebildet und organisiert" sein, um sich gegen Angriffe zu schützen. Die Nato bleibe hierfür die erste Adresse, die EU müsse aber auch selbständig handlungsfähig sein.

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