Brexit:Briten drohen Lebensmittel-Engpässe

Londoner Ministerien erwarten, dass im Fall eines No-Deal-Brexit auch Medikamente knapp werden. Mehr als 100 Abgeordnete appellieren an Premier Johnson, sofort das Parlament einzuberufen.

Von Cathrin Kahlweit, London

Wenige Tage vor dem G-7-Gipfel in Biarritz, auf dem der britische Premier, zumindest am Rande, auch über den bevorstehenden Brexit reden will, wächst der Druck auf Boris Johnson - außen- wie innenpolitisch. Es ist das erste Treffen von Johnson mit Staats- und Regierungschefs seit seinem Amtsantritt; er hatte absichtlich keine Antrittsbesuche gemacht, sondern signalisiert, er sei erst zu Gesprächen bereit, wenn Brüssel ein Entgegenkommen zeige und den in seinen Augen "undemokratischen Backstop", die Notlösung für Nordirland, streiche. Dafür gibt es allerdings keine Anzeichen, weshalb der Guardian EU-Diplomaten damit zitiert, Johnson werde spätestens bei Treffen mit der deutschen Kanzlerin und dem französischen Präsidenten "mit der Realität konfrontiert werden".

Auch in London sieht sich der Premier wachsendem Widerstand gegen seine Verhandlungsposition ausgesetzt, die bislang keine Angebote an Brüssel enthält. Johnson droht mit einem harten Brexit am 31. Oktober, also mit No Deal, wenn Brüssel nicht einknickt. Für diesen Fall erwartet die Regierung dramatische Engpässe bei Benzin, Nahrungsmitteln und Medikamenten, ein monatelanges Chaos an den Häfen, Grenz- und Zollkontrollen an der Grenze zu Irland und steigende Kosten für Sozialhilfe. Das hat die Times in ihrer Wochenendausgabe berichtet; dem Blatt war das gesamte Dossier, das den Codenamen "Operation Yellowhammer" hat, zugespielt worden. Die Ministerien analysieren darin die zu erwartenden Folgen eines vertragslosen Austritts aus der EU. Ein hoher britischer Beamter bestätigte der Zeitung, bei dem Dossier handele es sich nicht um Worst-Case-Szenarien, sondern um eine realistische Einschätzung im Lichte der Tatsache, dass sich die Wirtschaft nur bedingt auf No Deal einstellen könne.

Zugleich haben mehr als hundert Abgeordnete einen Brief an Johnson geschrieben, in dem sie ihn auffordern, das Parlament, das sich bis Anfang September in der Sommerpause befindet, umgehend wieder einzuberufen. "Sie erheben den Anspruch, für das Volk zu sprechen", heißt es in dem Brief, "aber das vom Volk gewählte Parlament kann in dieser wichtigen Phase nicht mitreden." Das Unterhaus, heißt es weiter, müsse umgehend und bis zum 31. Oktober durchgehend tagen, um das Regierungshandeln überprüfen zu können und die schwere Krise, auf die sich das Land zubewege, zu verhindern.

Einen Tag zuvor hatte Labour-Chef Jeremy Corbyn an die Unterhausabgeordneten geschrieben und sie aufgefordert, ihn in seinem Kampf gegen No Deal zu unterstützen. Corbyn plant ein Misstrauensvotum gegen Boris Johnson; sollte dies erfolgreich sein, will er sich vom Parlament zum Übergangspremier wählen lassen. Allerdings hat eine Reihe von Brexit-kritischen Tories, die No Deal ebenfalls verhindern wollen, angekündigt, sie seien nicht bereit, Corbyn ins Amt zu wählen. Dieser warnt, eine solche Weigerung sei ein "Flirt mit der Katastrophe"; nur durch Einigkeit über die Parteien hinweg könne man den harten Brexit noch verhindern. Downing Street nennt die Tories, die gegen Johnson stimmen wollen, "Verräter".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: