Süddeutsche Zeitung

Brexit:Wie Johnson Druck gegenüber Brüssel aufbauen will

Lesezeit: 2 min

Die EU-Kommission leitet rechtliche Schritte gegen das umstrittene britische Binnenmarktgesetz ein. Die Reaktion aus London kommt zügig - und ist wenig überraschend.

Von Matthias Kolb, Brüssel, und Alexander Mühlauer, London, Brüssel/London

Ursula von der Leyen verliert keine Zeit. Nur 75 Sekunden dauert ihr Auftritt, um zu verkünden, womit alle gerechnet haben. Die EU-Kommission, deren Präsidentin von der Leyen ist, hat am Donnerstag formelle Schritte gegen das umstrittene britische Binnenmarktgesetz eingeleitet. Dadurch würden frühere Verpflichtungen aus dem Brexit-Scheidungsvertrag unterlaufen, sagt von der Leyen zur Begründung.

Das Gesetz, das am Dienstag vom britischen Unterhaus gebilligt wurde, soll es der Regierung in London ermöglichen, die im Austrittsabkommen festgeschriebene Regelung zu umgehen, nach der im britischen Nordirland weiterhin EU-Zollregeln gelten sollen. Dadurch sollen vor allem zwei Ziele erreicht werden: Der Güterverkehr auf der irischen Insel soll weiter ohne Probleme laufen und der Frieden in der ehemaligen Bürgerkriegsregion Nordirland gewahrt werden.

Die EU-27 sehen in dem Gesetz einen Bruch der Vertragstreue und des Vertrauens. Die EU-Kommission hatte Großbritannien deshalb aufgefordert, die kontroversen Klauseln bis Ende September zurückzunehmen. Nun ist Oktober und von der Leyen teilt mit, dass die Regierung von Premierminister Boris Johnson einen Monat Zeit habe, um auf die Beschwerde der Kommission zu reagieren. Dann werde entschieden, ob die Antwort ausreiche.

Ist dies nicht der Fall, könnte die Behörde das Vereinigte Königreich dazu auffordern, die Vereinbarungen zu erfüllen. Geschieht dies nicht, steht der Weg zum Europäischen Gerichtshof in Luxemburg offen, wo Verfahren jedoch mehrere Jahre dauern können.

Die Reaktion aus London kommt 40 Minuten nachdem von der Leyen in ihr Büro zurückgekehrt ist - und ist ebenso wenig überraschend. Man werde den Brief aus Brüssel natürlich beantworten, teilt ein Regierungssprecher mit, aber in der Sache ändere sich nichts: "Wir müssen ein rechtliches Sicherheitsnetz schaffen, um die Einheit des Binnenmarktes des Vereinigten Königreichs zu schützen und sicher zu stellen, dass die Minister stets ihre Verpflichtungen gegenüber Nordirland erfüllen können und die Erfolge des Friedensprozesses schützen."

Johnson geht mit Kalkül vor

In Brüssel ist allerdings sehr wohl vernommen worden, dass die britische Regierung sich die Möglichkeit offen hält, das Binnenmarktgesetz noch einmal zu verändern. Nach dem Unterhaus ist als nächstes das Oberhaus an der Reihe. Weil Johnson dort viel Widerstand droht, will er den Gesetzgebungsprozess verzögern.

Sein Kalkül: Bevor das House of Lords über das Gesetz befindet, sollte klar sein, ob es mit Brüssel eine Einigung über einen Freihandelsvertrag gibt. Wenn ja, dürfte das Gesetz im Einvernehmen mit der EU angepasst werden. Wenn nicht, würde das Oberhaus über das unveränderte Gesetz beraten. Mit dieser Taktik versucht der Premier einerseits weiter Druck gegenüber Brüssel aufzubauen - andererseits lässt er ein Zeitfenster offen, um einen Kompromiss zu finden.

Beim EU-Gipfel in Brüssel ist der Brexit nur ein Randthema. Geplant ist, dass die EU-27 den Sachstand zu den Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich nur "kurz" diskutieren, bevor die Staats- und Regierungschefs nach Hause fliegen.

Irlands Ministerpräsident Micheál Martin hat angekündigt, seine Sicht zu präsentieren; auch von der Leyen dürfte sich zu Wort melden. Wie es aussieht, wird das Brexit-Endspiel erst im weiteren Verlauf des Oktobers beginnen - und den EU-Gipfel Mitte des Monats prägen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5051991
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.10.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.