Brexit:Bewegt euch!

Theresa May ist zu Hause krachend gescheitert, aber verloren hat auch der Rest Europas: Die EU muss jetzt Zugeständnisse machen beim Brexit-Deal, um das Schlimmste zu verhindern.

Von Matthias Kolb

In Brüssel hatte man die Hoffnung, dass der Brexit-Vertrag im ersten Versuch vom Londoner Unterhaus gebilligt wird, schon vor Weihnachten aufgegeben. Eine Pleite für Premierministerin Theresa May war da bereits einkalkuliert. Dass ihr Deal mit der EU jetzt derart abgeschmettert wurde, ist dennoch ein Schock. Zu viele britische Politiker verharrten in einer "Schwarz-Weiß-Welt", klagte ein EU-Diplomat. Um Fortschritte zu machen, müsse man "hinein ins Graue". Dies gilt nun, zweieinhalb Monate vor dem Stichtag am 29. März, nicht nur für Brexit-Hardliner, sondern auch für den Rest Europas: Die Staats- und Regierungschefs müssen Gewissheiten infrage stellen, um das Chaos eines ungeordneten Austritts Großbritanniens aus der EU zu verhindern.

Ein harter Brexit würde den Unternehmen enorme Probleme bereiten und den Alltag von Millionen EU-Bürgern im Vereinigten Königreich sowie vieler Briten in der EU auf den Kopf stellen. Gewiss: Auf dem Kontinent bereitet man sich auf das Horrorszenario vor. Aber selbst wenn sich Flug- und Warenverkehr nach einer ruppigen Übergangszeit normalisieren sollten, wären die vorherigen Turbulenzen fatal für das Image der EU, die weltweit für Kompromisse und Regeln wirbt. US-Präsident Donald Trump würde ebenso frohlocken wie Wladimir Putin in Moskau.

Es spricht alles dafür, auch künftig eng mit Großbritannien zu kooperieren: Die Wirtschaftsräume sind miteinander verflochten, und im Kampf gegen Terror, Wirtschaftsspionage und Cyberkriminalität hat der Nato-Partner viel zu bieten. Je früher sich die EU von der Formel verabschiedet, ihr nun im britischen Unterhaus gescheitertes Angebot sei der "beste und einzige Deal", desto besser.

Nicht verhandelbar bleiben aus Brüsseler Sicht die Integrität des Binnenmarkts sowie die Rechte von EU-Bürgern auf der Insel. Jenseits davon beginnt jene Grauzone, in der nach neuen Ideen gesucht werden muss. Wer klare Aussagen einfordert, erhöht durch Kompromissbereitschaft die eigene Glaubwürdigkeit.

Die Gefahr, dass der Brexit Nachahmer findet, ist längst gebannt, die Nachteile eines Austritts sind offensichtlich geworden. Noch immer ist das zentrale Problem der EU-27 ungelöst: Es fehlt das Vertrauen, dass May mit den Zugeständnissen der EU zu Hause eine Mehrheit gewinnen kann. Doch so frustrierend dies auch ist, Beleidigungen und Spott in Richtung London sollten unbedingt unterbleiben. Es wäre auch ein Fehler, offen für ein zweites Referendum der Briten zum Brexit zu werben. Eine solche Entscheidung kann nur auf der Insel fallen - und Einmischung stärkt die radikalen Brexiteers. Die Premierministerin hat am Mittwochabend das Misstrauensvotum im Unterhaus überstanden, nun haben die EU-27 bis Montag Zeit, sich eine neue Strategie zu überlegen. Spielraum gibt es an zwei Stellen: Durch eine Verlängerung der Austrittsfrist nach Artikel 50 des EU-Vertrags könnten konstruktive Vorschläge belohnt werden. Im besten Szenario übernimmt das britische Parlament die Führung, und May agiert im Auftrag jener Abgeordneten, die im Unterhaus die Mehrheit stellen und einen Chaos-Brexit verhindern wollen. Wenn die Gruppe realistische Kriterien formuliert, sollte Brüssel das Austrittsabkommen aufschnüren. Dabei wird es um den zweiten Punkt gehen: den "Backstop", also jene Sonderregeln, die künftige Grenzkontrollen zwischen der Republik Irland und dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland verhindern sollen. Hier muss alles getan werden, damit sich die irische Regierung bewegt. Dies wird enorm schwierig, Dublin wurde angesichts des fragilen Friedens auf der irischen Insel ein Vetorecht eingeräumt. Die großen EU-Staaten müssen bedenken, wie genau auch kleinere Mitglieder darauf achten, dass ihre Anliegen ernst genommen werden. Klar erscheint: Dublin dürfte, wenn überhaupt, ein Ablaufen solcher Sonderregeln erst in mehreren Jahren akzeptieren - und wird dafür Gegenleistungen fordern.

Dies alles testet die Geschlossenheit, die bisher das große Plus der EU-27 war. Die Einheit wird brüchiger werden, je näher die Europawahl Ende Mai rückt. Denn dann wird es für Politiker immer verführerischer, sich durch Attacken auf die Briten zu profilieren. Die Zeit drängt also. Wenn bei der Europawahl Populisten triumphieren, müssen die Regierungschefs der Versuchung widerstehen, für kurzfristige innenpolitische Gewinne den langfristigen Bestand des europäischen Friedensprojekts zu gefährden. Sprich: Sie müssen verantwortungsvoller agieren, als es die britische politische Klasse seit Jahren tut.

In all dieser Düsternis gibt es aber einen Lichtblick: Die EU ist geübt darin, Auswege aus scheinbar aussichtslosen Lagen zu finden. Alle Probleme, die durch eine Verlängerung der Austrittsfrist über die Europawahl hinaus entstehen könnten, lassen sich durch politischen Willen und neue Verfahrensregeln lösen. Dass der Krisenmodus seit Jahren Dauerzustand der EU ist, ist jetzt ein Vorteil.

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