Brexit:All seine Rollen

Boris Johnson ist mehr Spieler als harter Ideologe. Schon oft hat er Meinungen und Haltungen gewechselt, wenn es ihm nützlich erschien.

Von Cathrin Kahlweit

Brexit: Wo Churchill regierte: Downing Street No. 10 in London, Sitz des britischen Premierministers. Davor: Larry, dauerhafter Bewohner der No. 10 als "Chief Mouser to the Cabinet Office", die amtliche Chefmausekatze. Deren Posten gibt es seit Henry VIII. im 16. Jahrhundert. Ob Boris Johnson zumindest diese Tradition der britischen Demokratie respektiert, ist unbekannt.

Wo Churchill regierte: Downing Street No. 10 in London, Sitz des britischen Premierministers. Davor: Larry, dauerhafter Bewohner der No. 10 als "Chief Mouser to the Cabinet Office", die amtliche Chefmausekatze. Deren Posten gibt es seit Henry VIII. im 16. Jahrhundert. Ob Boris Johnson zumindest diese Tradition der britischen Demokratie respektiert, ist unbekannt.

(Foto: Isabel Infantes/AFP)

Eigentlich gilt er als famoser Redner. Schlampig manchmal in Diktion und Aussprache, zu schnell, zu hudelig. Mit Macken und Marotten, mit einem Hang zu Fremdwörtern, die er den Zuhörern vorwirft wie einem Löwen einen Knochen: Hier, kaut daran! Und wenn ihr das Wort nicht kennt, dann schaut es eben nach. Johnson hat den "Oxford stutter" perfektioniert, eine scheinbar stotternde Redeweise, die wirkt, als suche der Sprecher nach Worten, als ringe er um einen Sinn. In Wahrheit ist das eine Taktik, um die Zuhörer bei Laune zu halten. Sie müssen sich konzentrieren, um am Ende belohnt zu werden und zu erfahren, was der Redner sagen will.

Boris Johnson hat all das und viel mehr in Eton und im Studium des Klassischen Altertums in Oxford gelernt. Britische Eliteschulen und Elite-Universitäten gelten als Orte, an denen man nicht unbedingt unendliches Wissen akkumuliert, sondern sich durchzusetzen lernt, überleben lernt, reden lernt. Johnson war kein sonderlich guter Schüler, aber als Chef der Oxford Union, eines Debattierclubs, konnte er früh taktieren, überzeugen, gewinnen. Manche seiner ehemaligen Kommilitonen sagen auch: Er lernte dort, flamboyant aufzutreten und geschickt zu lügen.

Seit er - was immer sein Lebenstraum war - am 24. Juli 2019 Premierminister von Großbritannien wurde, ist von der Kunst der guten Rede nicht mehr viel zu sehen und zu hören. Alexander Boris de Pfeffel Johnson, wie sein Geburtsname lautet, hatte fortan eine Menge Sprechblasen auf Lager. "Wir müssen den Brexit über die Ziellinie bringen", war eine davon, oder auch: "Das Parlament hat einen Unterwerfungsakt beschlossen und sich geweigert, den Brexit zu vollziehen." Deshalb müsse das Parlament durch ein neues ersetzt werden, um "den Brexit zu schaffen". To get Brexit done. Das alles sagte er Tag um Tag, in jeder Rede, bei jedem Auftritt. Gut möglich, dass er sich selbst schon nicht mehr hören konnte. Aber dieses Einhämmern der immer gleichen Slogans, von Fachleuten Framing genannt, blieb nicht ohne Wirkung. Viele Briten glaubten Johnson, dass er den Brexit schaffen will und wird. Und dass er dafür neue Abgeordnete und ein anderes Parlament braucht. Und so führte er die Konservativen bei der Unterhauswahl am 12. Dezember zu ihrem größten Triumph seit den Zeiten von Margaret Thatcher.

Brexit: Am Ziel seiner Wünsche, aber politisch erst mal ohne Glück: Boris Johnson betritt No. 10 Downing Street.

Am Ziel seiner Wünsche, aber politisch erst mal ohne Glück: Boris Johnson betritt No. 10 Downing Street.

(Foto: Isabel Infantes/AFP)

Der Brexit hält das Königreich nicht erst seit Juni 2016, seit dem von Johnsons Vorvorgänger David Cameron angesetzten Referendum, in Atem, wühlt es auf, spaltet es. In den Jahren vor der Volksabstimmung, letztlich aber wohl seit dem ebenfalls stark umstrittenen Eintritt in die EWG 1973, schwelte im Land eine Debatte darüber, ob Großbritannien nicht besser dran wäre ohne den "bürokratischen Moloch Brüssel", besser fahren würde ohne enge Bindungen an eine Gemeinschaft, die in den Augen ihrer britischen Gegner nur Geld kostet und der Nation die Freiheit der Selbstbestimmung nimmt.

Johnson allerdings hat sich in dieser Auseinandersetzung nie verkämpft. Als aufstrebender Reporter für den Daily Telegraph in Brüssel schrieb er Kolumnen über die EU, die so übertrieben, aufgeblasen und teils regelrecht erfunden waren, dass Kollegen nur den Kopf schütteln konnten. Aber er wurde so der Star einer Anti-EU-Berichterstattung, die meist ohne Fakten, aber nie ohne Meinung auskam. Niemand indes hätte wohl damals behauptet, dass der junge Boris Johnson in Wahrheit ein überzeugter, glühender EU-Gegner wäre. Eher wohl ein überehrgeiziger Journalist, der, wie seine Biografin und ehemalige Stellvertreterin im Brüsseler Büro des Telegraph, Sonia Purnell, schrieb, den "Euroskeptizismus zu einer emotional akzeptierten, ja attraktiven Haltung für die Rechten" machte.

Johnson blieb eine Weile Journalist; er mochte die Rolle, sie engte ihn nicht ein, sie entsprach seinem Selbstwertgefühl. Er wurde Herausgeber des konservativen Spectator in London, hatte Affären, produzierte Skandale, nahm sich selbst aber mutmaßlich oft weniger ernst als seine Leser seine Texte nahmen, und ging dann in die Politik. Politiker - auch dies eine Rolle, die er sich nach den eigenen Bedürfnissen formte: wichtig sein, gehört werden, Ehrgeiz ausleben, Risiken eingehen und doch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Er wurde 2008 und 2012 zum Bürgermeister der Stadt London gewählt - eine bunte, von Menschen jedweder Herkunft, Hautfarbe, Überzeugung und Orientierung bewohnte Metropole. So einer konnte, durfte gar nicht euroskeptisch oder gar europafeindlich sein. Als Mayor of London musste Johnson nachgerade als Vertreter der One- Nation-Tories auftreten - jener großen und traditionsbewussten Strömung in der Partei, die sich Toleranz, Liberalismus und Modernität auf die Fahnen geschrieben hatte. Das heißt: bis zum 5. Mai 2016. Damals wurde der Labour-Mann Sadiq Khan in das Amt des Bürgermeisters gewählt. Und Johnson war wieder auf der Suche nach einer neuen Aufgabe, einer neuen Bühne, einer neuen Rolle.

Never ending Brexit: Eine Chronik

15.1. Das Parlament lehnt den von Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelten Brexit-Deal ab.

12.3. May scheitert erneut mit ihrem Brexit- Deal vor dem Parlament. Es stimmt aber auch gegen einen Austritt ohne Abkommen.

21.3. Der Brexit wird verschoben bis mindestens zum 12. April.

29.3. Das britische Parlament lehnt den Vertrag mit Brüssel ein drittes Mal ab.

11.4. Der Brexit wird erneut verschoben, bis zum 31. Oktober.

7.6. May gibt den Parteivorsitz der Tories ab.

23.7. Boris Johnson setzt sich als neuer Partei- und Regierungschef durch.

28.8. Johnson bittet Queen Elizabeth, das Parlament nur wenige Tage im September tagen zu lassen und dann zu beurlauben.

24.9. Das Oberste Gericht urteilt, dass die Zwangspause des Parlaments rechtswidrig ist. Es tritt am folgenden Tag zusammen.

22.10. Die Parlamentarier stimmen Johnsons Brexit-Deal zu, aber nicht dem Zeitplan. Johnson wollte an einem Austritt zum 31. Oktober festhalten.

29.10. Der Premier setzt sich im vierten Anlauf mit dem Antrag auf Neuwahlen durch.

12.12. Die Tories gewinnen die Parlamentswahl triumphal. Boris Johnson hat nun freie Fahrt für den Brexit-Vertrag, den er mit Brüssel ausgehandelt hat.

20.12. Mit der neuen konservativen Mehrheit billigt das britische Parlament den Brexit-Vertrag.

Der geplante Termin für den Austritt Großbritanniens aus der EU war bei Redaktionsschluss der 31. Januar 2020.

Als das Referendum anstand, wechselte er erneut die Seite: von EU-skeptisch zu EU-freundlich zu EU-skeptisch. Dass er zwei Versionen eines Zeitungsartikels geschrieben haben soll, um zu sehen, welche Argumentation er überzeugender vortragen konnte, ist oft berichtet worden. In seiner Autobiografie schrieb David Cameron, dass er Angst davor hatte, für welches Lager sich Johnson entscheiden würde. Er habe gewusst, so Cameron in "For the Record", dass sein alter Rivale Boris entscheidend sein könne für den Ausgang des Votums. Und tatsächlich: Nachdem sich Johnson und sein Mitstreiter Michael Gove an die Spitze der Leave-Kampagne gestellt hatten, war die Sache für viele Beobachter klar. Der Brexit hatte nun eine echte Chance.

Das Ergebnis ist bekannt. Johnson gilt seither als überzeugter EU-Gegner. Seine Anti-Brüssel-Rhetorik ist aggressiv und polemisch. Und doch ist der Deal, den er mit den "Sklavenhaltern" in der EU ausgehandelt hat, voller Kompromisse, die er niemals zu machen beteuert hatte. Beobachter, die ihn auf dem entscheidenden Gipfel in Brüssel Mitte Oktober begleiteten, berichteten von einem Mann, der sich in der Gesellschaft der europäischen Führer förmlich suhlte und jedes Wohlwollen aufsog wie ein Schwamm das Wasser.

Die vorgezogenen Neuwahlen im Dezember waren ein Vabanquespiel für den Premier. Er gewann haushoch, nun kann er den Brexit zum 31. Januar vollziehen. Wird er das Land weiter spalten? Gut möglich, dass er seine rigide Anti-Europa-Haltung in den nun folgenden Verhandlungen über die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU bald wieder ändert, weil er Brüssel braucht. Und weil er selbst zu klug ist, um seine eigene Rhetorik und seine demonstrative ideologische Verhärtung nicht bisweilen lächerlich zu finden.

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