Europäische Spitzenpolitiker und Vertreter der Wirtschaft bedauern einhellig, dass die britische Premierministerin Theresa May erneut mit ihren Brexit-Plänen im Unterhaus gescheitert ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte fest, es bleibe natürlich das Ziel, dass Großbritannien geordnet aus der EU austritt. "Aber durch den gestrigen Tag sind die Optionen natürlich geringer geworden. Jetzt ist es an der britischen Seite, erst einmal festzulegen, ob man überhaupt ein Abkommen möchte oder ohne Abkommen austreten möchte."
Die Kanzlerin wollte sich nicht zu den Modalitäten einer möglichen Brexit-Verschiebung äußern. Vorher wolle die Bundesregierung die weiteren Parlamentsentscheidungen in London abwarten, um dann zu schauen, wie es weitergehen könne. Am Mittwoch wollen die britischen Parlamentarier darüber abstimmen, ob Großbritannien ohne Vertrag am 29. März aus der EU ausscheiden soll. Wird ein solcher "No Deal"-Brexit abgelehnt, entscheiden die Abgeordneten am Donnerstag darüber, ob die EU um eine Verschiebung des Austrittsdatums gebeten werden soll.
Brexit:Auf Euphorie folgt Verzweiflung
Für einige Stunden kam die Hoffnung auf, dass die Premierministerin vielleicht doch noch den Brexit-Vertrag durch das Unterhaus boxen könnte. Dann legte ihr Rechtsberater ein Gutachten dazu vor.
Nach Ansicht von Bundesaußenminister Heiko Maas wird nach dem Nein der Abgeordneten ein ungeregelter Brexit wahrscheinlicher. "Mit dieser Entscheidung rücken wir einem No-Deal-Szenario immer näher", sagte er. Auch Paris zeigte sich enttäuscht von dem Abstimmungsergebnis. Man könne nun aber "unter keinen Umständen" eine Verlängerung des Verhandlungszeitraums ohne eine alternative, glaubwürdige Strategie Großbritanniens akzeptieren, teilte der Élysée-Palast mit.
Ähnlich äußerten sich auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk. Die übrigen 27 EU-Staaten würden einen "begründeten Antrag" Großbritanniens auf Verlängerung der Austrittsfrist über den 29. März hinaus in Erwägung ziehen. Aber: "Die EU-27 wird eine glaubwürdige Begründung für eine mögliche Verlängerung und ihre Dauer erwarten", betonte Tusks Sprecher. Man sei "enttäuscht, dass die britische Regierung es nicht geschafft hat, eine Mehrheit für das Austrittsabkommen zu erreichen, auf das sich beide Seiten im November geeinigt haben". Die EU habe alles Erdenkliche für eine Einigung getan.
Auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz zeigte sich offen für eine Verschiebung des Brexits um ein paar Wochen, um einen ungeordneten Austritt Großbritanniens aus der EU zu vermeiden.
Der Guardian berichtet unterdessen unter Berufung auf Diplomatenkreise, dass die deutsche Kanzlerin bereits beim Treffen der EU-Staaten mit der Arabischen Liga im ägyptischen Sharm El-Sheikh vergangenen Monat signalisiert habe, dass Deutschland einer Verschiebung des Austrittsdatums nicht im Weg stehen werde. Merkel soll demnach gesagt haben, dass eine Verschiebung bis zum 23. Mai "sehr einfach" sei. Eine Verschiebung bis zum 30. Juni soll Merkel immerhin noch "einfach" genannt haben. Kurz danach würde sich das neue Parlament in Straßburg konstituieren.
Die britische Premierministerin Theresa May hatte am Dienstagabend bei der Abstimmung über ihr Brexit-Abkommen erneut eine Niederlage hinnehmen müssen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hält eine Verlängerung dieser Frist nur bis zur Europawahl Ende Mai für möglich, andernfalls müsse Großbritannien an der Wahl teilnehmen. Bisher wollen die Briten Ende März aus der EU aussteigen.
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte betonte ebenso wie EU-Brexit-Unterhändler Michel Barnier, dass das Problem nur in Großbritannien gelöst werden. Die EU habe alles getan, was möglich sei. Die Vorbereitungen für einen harten Brexit seien jetzt wichtiger als je zuvor, sagte Barnier.
Die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Katja Leikert (CDU), rief die Abgeordneten in London auf, "ihrer Verantwortung für die Menschen in Großbritannien" gerecht zu werden. Die Grünen erklärten, die britische Regierung müsse "endlich ihr Verantwortungsbewusstsein beweisen und einen Weg aus diesem Schlamassel aufzeigen". Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) nannte die Entscheidung des britischen Unterhauses eine "herbe Enttäuschung". Der Präsident des Bankenverbands, Hans-Walter Peters, sagte: "Die britische Politik handelt unverändert irrational." Ob es weiterhin enge wirtschaftliche Beziehungen zum Vereinigten Königreich geben könne, stehe in den Sternen.
Oettinger zeigt sich hoffnungsvoll
Der spanische Premierminister Pedro Sánchez meldete sich mit einem Gastbeitrag in der Zeitung El País zu Wort. Darin bedauerte auch er das Ergebnis der Abstimmung - und sagte zudem, dass der Brexit sich nicht ohne die Betrachtung dreier Dinge begreifen lasse. Dies seien erstens ein Nationalismus, der auf falsche Nostalgie setze, zweitens der Vorstoß der extremen Rechten und drittens das Werkzeug des Referendums, von dem man sich fälschlicherweise verspreche, dass es einfache Antworten auf komplexe Probleme gebe.
Leichte Hoffnung äußerte der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger. "Es gibt in jedem Parlament Bewegung, auch im britischen Unterhaus." Er habe zudem den Eindruck, dass immer mehr Briten bewusst werde, welchen "grandiosen Schaden" der Brexit in Großbritannien verursachen könne. "Das könnte noch für Überraschungen sorgen im britischen Parlament." Er rechne ebenfalls damit, dass Großbritannien um eine Fristverlängerung bitten werde.