Brexit-Abstimmung:May spielt hoch und verliert ein drittes Mal

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Und täglich grüßt das Murmeltier: Theresa May am Freitag im britischen Unterhaus (Foto: AFP)
  • Das Unterhaus lehnt den von Theresa May ausgehandelten Brexit-Deal mit der EU zum dritten Mal ab.
  • Diesmal fiel das Ergebnis knapper aus, als bei den beiden Abstimmungen zuvor.
  • Ob May noch lange Premierministerin bleiben kann, ist fraglich.

Von Cathrin Kahlweit, London

Diesmal stöhnte niemand laut, es brüllte oder juchzte auch niemand: Als vier Abgeordnete dem Parlamentssprecher das Ergebnis der dritten Abstimmung zum EU-Austrittsvertrag überbrachten, war es ungewöhnlich still im Unterhaus. In den vergangenen Wochen war viel gestritten worden; es hatte Aggressionen, Emotionen, auch Tränen gegeben, Abgeordnete, die sich seit Jahren kennen, gaben sich nicht mehr die Hand, auf den Gängen hatten sich Kollegen aus unterschiedlichen Lagern angeschrien. Die brutalsten Worte waren wohl von Tory-Hardliner Steve Baker gekommen: Als er hörte, dass einige seiner Fraktionskollegen im Gegenzug zu Mays Rücktritt zugesagt hatten, nun doch für den verhassten Deal zu stimmen, hatte er unter dem Jubel seiner Fans gebrüllt, er habe nicht übel Lust, das Parlament mit dem Bulldozer niederzuwalzen und in die Themse zu kippen. Mays Auftritt sei eine "Pantomime", und wenn das so weitergehe, schmeiße er hin und trete aus der konservativen Partei aus.

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Nun, das wird nicht nötig sein, im Gegenteil. May hat ihr "Pokerspiel verloren", ihren "letzten Würfel geworfen", ist "in ihr Schwert gestürzt" und was der Metaphern mehr waren am Freitag in Westminster, nach ihrer dritten Niederlage. Diesmal waren es nur knapp 60 Gegenstimmen, aber die reichten. Die Gruppe um Baker und die nordirische DUP waren bei ihrem Nein geblieben. May sprach von "schwerwiegenden Folgen" dieser Entscheidung, Jeremy Corbyn forderte umgehend Neuwahlen. Das Unterhaus ging, weil die Abgeordneten die Niederlage erwartet hatten, fast schulterzuckend zur Tagesordnung über.

Alle waren an diesem historischen Tag früh auf den Beinen gewesen. Theresa May war in ihrer Limousine gegen halb neun durch das schmiedeeiserne Tor des Westministerpalastes gefahren worden und stieg noch nicht gleich aus; vielleicht machte sie ein paar Telefonate im Schatten des Big Ben, um die letzten Zauderer zu überzeugen, vielleicht sammelte sie sich auch innerlich für einen Tag, der einer der letzten als Premierministerin sein konnte - wer wusste das schon. Was sie aber wusste: Der 29. März hätte in die Geschichte eingehen sollen als Endpunkt einer 46-jährigen Mitgliedschaft in der EU, als Unabhängigkeitstag, als jener Moment, in dem das Königreich, befreit vom Joch der EU, wieder nach alter Größe strebt. Stattdessen kämpfte May um ihren Job, um das Überleben ihrer Partei, und gegen den Ruf als wohl miserabelste Verhandlerin, die Großbritannien in diesen komplizierten Zeiten hätte haben können.

Sie war 2016 mehr aus Versehen denn Kalkül Premierministerin geworden. David Cameron hatte mit seiner Zukunft und mit der Zukunft seines Landes gepokert, er hatte verloren und war zurückgetreten. In dem nachfolgenden Wettbewerb um seine Nachfolge hatten sich mehrere Kandidaten, die May nun wieder beerben wollen, gegenseitig aus dem Rennen geworfen, nur sie war übrig geblieben. Last Woman standing, hieß es damals, und schon damals war auch allen klar: Das würde ein schwerer Weg. Eine ehemalige Anhängerin für den Verbleib in der EU sollte den Brexit umsetzen, dazu eine Frau, die noch nie auf einem Gipfel in Brüssel gewesen war, als Innenministerin von Europa herzlich wenig wusste. Und die sich, wie der ehemalige britische EU-Botschafter Ivan Rogers an diesem 29. März sagt, sofort den Hardlinern in der Partei an den Hals geworfen habe, um den Tories zu beweisen, dass sie die Richtige sei, um Europa entgegenzutreten. Rogers hatte die Verhandlungsführung seiner Regierung intern kritisiert und im Januar 2017 hingeworfen. Sie habe nie eine Strategie gehabt, sagt er nun, und "hat auch heute keine".

Vielleicht hoffte May, dass ihr zumindest der massive Zeitdruck, die ablaufende Uhr, die Drohung eines No Deal in zwei Wochen - und, nicht zuletzt, der mögliche Eintrag in den Geschichtsbüchern in die Hände spielen würde. Der 29. März, Brexit-Tag, sollte - so Mays Kalkül - maximalen psychologischen Druck auf die Abgeordneten erzeugen, die ihren Deal oder sie selbst schon lange bekämpft hatten. Sie sollten wissen: Wenn sie an diesem Tag nicht Ja sagen, dann würde ihnen das Volk auf ewig vorwerfen, dass sie ihr Versprechen gebrochen hätten. Nur: Ob das jemanden da drinnen, im Unterhaus, beeindrucken würde? Sie stieg dann doch aus. Es half ja nichts.

Draußen auf dem Tor brüllten bereits Hunderte Demonstranten, Leaver vor allem, die auf dem Asphalt vor dem Parlament einen Teppich von selbst gemalten Plakaten ausgebreitet hatten: "Das Parlament untergräbt die Demokratie", stand darauf, und "Die Abgeordneten haben Angst vor dem Brexit." Autofahrer hupten, weil Schilder mit dem Slogan "Hupe, wenn du für den Brexit bist", sie dazu aufforderten, und dazwischen predigte eine junge Schwarze, die jeden Morgen an derselben Stelle vor dem Parlament steht, gegen den Weltuntergang an. Die einzig gute gelaunte Stimme in der ganzen Kakofonie war, so schien es, eine junge Frau, die ihren Kinderwagen an dem ganzen Wahnsinn entlangschob und zu ihrem Säugling sagte: "Dein erster Tag in der Stadt, und dann gleich ein so wichtiger. Davon werde ich dir erzählen, wenn du mal groß bist." Dem Baby schien das zu gefallen.

Im Radio waren zu diesem Zeitpunkt bereits die letzten Interviews vor dem Showdown gegeben worden; Labours Schattenminister für den Brexit, der Jurist Keir Starmer, appellierte an alle schwankenden Kollegen, ja nicht für diesen "blindesten aller blinden Brexits" zu stimmen, mit dem May die Tories an der Macht halten und einen Kompromiss im Sinne des Volkes verhindern wolle. Arlene Foster, die sehr robuste und resolute Parteichefin der nordirischen DUP, von deren Stimmen an diesem Tag so viel für May abhängen sollte, betonte, ihre Partei werde nicht umfallen, für Nordirland stehe zu viel auf dem Spiel.

Während in einem zeitweilig fast leeren Unterhaus, das die Vor- und Nachteile des Austrittsabkommens ja schon zuvor viele Hundert Stunden lang diskutiert hatte, die letzten Reden gehalten wurden, debattierten ein paar Meter weiter, im Queen-Elizabeth-Center, auf einer Konferenz über "Zwei Jahre Brexitverhandlungen" Vertreter der EU, der britischen Presse und des Unterhauses über den Brexit. Wieso war der überhaupt passiert, und wie konnte es so weit kommen, dass das Land heute so gespalten, so zerstritten ist wie nie?

Als der Saal vor einem Jahr gebucht worden war, hatte niemand gewusst, dass nebenan immer noch um den Austritt aus der EU gerungen würde. Hatte nicht der Minister für internationalen Handel, Liam Fox, den Briten erklärt, es werde das Einfachste von der Welt sein, Dutzende schöne Handelsverträge abzuschließen? Und die EU werde, angesichts der ökonomischen Bedeutung des Königreichs, unbedingt einen besonders vorteilhaften Deal anbieten? Hatten Tory-Minister nicht den Briten versprochen, die Brexit-Gespräche würden ein Spaziergang werden?

Nun, sie wurden es nicht. Stefaan de Rynck, hoher EU-Beamter im Team des Brüssler Chef-Unterhändlers Michel Barnier, betonte, diese Verhandlungen seien immer atypisch gewesen: Es sei schließlich nicht darum gegangen, einen gemeinsamen Mehrwert zu schaffen, wie das bei klassischen Deals zum beiderseitigen Vorteil der Fall sei. Was er andeutete: Brexit hat keinen Mehrwert, niemand profitiert.

Brexit wie es weitergeht Superbild (Foto: Süddeutsche.de)

Das fanden dann am Ende dieses historischen Tages auch viele Abgeordnete auf der anderen Straßenseite. Nachdem der Deal abgelehnt war, gingen aber auch umgehend die Spekulationen über Mays Zukunft und die Zukunft des Brexit los: Würde sie trotzdem gehen? Und würde sie dem Parlament, wie sie in der vorangegangen Debatte versprochen hatte, mehr Mitspracherecht beim Ausloten eines neuen Kompromisses zubilligen? Der Ex-Europa-Staatssekretär von Labour, Denis McShane, warnte davor, May zu trauen. Nun, da ihr Deal durchgefallen sei, werde sie nicht zurücktreten. Sie werde das Land an britische Versionen von Rechtspopulisten wie Viktor Orbán oder Matteo Salvini übergeben, werde den Hardlinern in der eigenen Partei noch mehr Macht zubilligen - und die würden dann den No Deal, den Austritt ohne Vertrag, durchziehen. Die Hardliner wollten "die Amputation des Landes", sagt McShane, und sagt einen ideologischen Bürgerkrieg voraus. "Das wird wie Protestanten gegen Katholiken, es wird einen Kulturkampf geben in Großbritannien."

Ein britischer Ex-Botschafter ist sicher: Das Land wird noch tiefer in den Gräben versinken

Auch Ex-EU-Botschafter Ivan Rogers spart nicht mit kritischen Worten. May habe zugesichert, dass sie gehe, wenn ihr Deal die Mehrheit bekommt. Nun, da er durchgefallen sei, werde sie bleiben. "Ich kenne ihren Stil", so Rogers, "sie ist nicht die brave, pflichtbewusste Vikarstochter, als die sie wahrgenommen wird." Sie werde sich jetzt der ultimativen Lösung, dem No Deal, verschreiben. "Das Land wird noch tiefer in seinen Gräben versinken."

Die nächsten Wochen und Monate werden also heftig werden. Ob May tatsächlich weitermachen kann, selbst wenn sie will, ist fraglich. Mindestens zehn Minister und Abgeordnete würden gern ihre Nachfolge antreten, der Druck auf sie wird wachsen. Nicht nur bei Labour, sondern auch in ihrer eigenen Partei fürchten viele, dass jetzt die Stunde der Brexiteers schlägt, die Kurs auf einen harten Brexit nehmen. Und der 12. April rückt unaufhaltsam näher. Wenn das Parlament bis dahin keine Lösung gefunden hat, tritt das Königreich Knall auf Fall aus der EU aus.

Am Freitag schien das die Abgeordneten nicht zu schocken. Während ein Parlamentsdiener kurz nach der Verkündung des Ergebnisses gelassen das goldene Zepter aus dem Saal trug, verließen viele fast fluchtartig das Unterhaus. Montag soll es weitergehen. Dann wollen sie über alternative Lösungen debattieren.

© SZ vom 30.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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