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Abstimmung über Brexit-Deal:Backstop? No Deal? Was Sie wissen müssen

Was hat es mit dem Backstop auf sich? Warum beginnen die härtesten Verhandlungen für die Briten erst nach dem Austritt? Antworten auf die wichtigsten Fragen vor der Brexit-Abstimmung im Unterhaus.

Von Björn Finke, London, und Sebastian Gierke

Das Drama steuert auf einen Höhepunkt zu. Am 15. Januar will Premierministerin Theresa May das britische Parlament über den Austrittsvertrag abstimmen lassen, auf den sich London und Brüssel geeinigt haben. Ob die Regierungschefin eine Mehrheit findet, ist unklar. Falls nein, droht am 29. März ein Austritt ohne Vertrag. Doch selbst wenn die Abgeordneten die Vereinbarung durchwinken, ist das Brexit-Drama nicht abgeschlossen. Ganz im Gegenteil: Es mag nach den mühsamen Verhandlungen der vergangenen zwei Jahre kaum vorstellbar sein, aber die schwierigsten Gespräche zwischen Großbritannien und der EU stehen noch aus. Der Überblick.

Was passiert bis zum 29. März?

Das britische und das EU-Parlament müssen das Austrittsabkommen billigen. In London lehnen zahlreiche Brexit-Enthusiasten in Mays Konservativer Partei den Vertrag ab. Sie klagen, die Regierung habe zu viele Zugeständnisse gemacht. Sollte May wegen dieser Rebellen die Abstimmung verlieren, könnten Parlamentarier eigene Vorschläge einreichen, wie es weitergehen soll. Manche würden eine zweite Volksabstimmung fordern, manche eine andere Form von Brexit. Doch für keine dieser Ideen ist eine Mehrheit absehbar.

Ist das geklärt, könnte May den Vertrag noch einmal vorlegen. Die Alternative wäre dann ein Austritt ohne Vertrag. So einen ungeordneten Brexit will die große Mehrheit der Parlamentarier quer durch alle Parteien verhindern. Die Regierungschefin könnte Brüssel daher bitten, den Austritt zu verschieben, wenn sie auch die zweite Abstimmung verliert. Aufschub bis Mitte Mai, bis zum Termin der Europawahlen, dürfte kein großes Problem sein.

Was ist der Backstop?

Dass es Theresa May wohl nicht gelingen wird, den Brexit-Deal am Dienstag durch das Parlament zu bringen, liegt vor allem an der Backstop-Klausel, einer Art Sicherungsmechanismus für die irische Insel. Nach einem Brexit wird die Republik Irland weiter zur EU gehören, Nordirland nicht. Es entsteht eine Außengrenze der EU. Doch eine sichtbare Grenze und Zollkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland könnten in der ehemaligen Bürgerkriegsregion wieder Unruhen provozieren. Diese Sorge teilen die EU und Großbritannien.

Der Backstop stellt deshalb sicher, dass niemals Zollkontrollen an der Grenze nötig sein werden, so wie es der Friedensvertrag aus dem Jahr 1998 festlegt. Die Vereinbarung besagt konkret, dass ganz Großbritannien in einer Zollunion mit der Europäischen Union bleibt und Nordirland zusätzlich im europäischen Binnenmarkt, falls es der EU und Großbritannien nicht gelingt, in der Übergangsphase nach dem Brexit ein Handelsabkommen abzuschließen.

Warum ist das für die Abstimmung über den Brexit-Deal ein Problem?

Dass es gelingt, in der Übergangsphase nach dem Brexit ein Freihandelsabkommen auszuhandeln, ist keineswegs sicher (siehe unten). Weniger ambitionierte Abkommen haben in der Vergangenheit sehr viel mehr Zeit in Anspruch genommen als die vereinbarten knapp zwei, maximal vier Jahre.

Deshalb ist die Sorge vieler britischer Abgeordneter groß, dass das Vereinigte Königreich nach dem Brexit noch sehr lange in einer Zollunion mit der Europäischen Union bliebe. Die Briten würden ihre Souveränität in der Handelspolitik nicht zurückbekommen, könnten als Mitglied einer Zollunion mit der EU keine Handelsverträge mit anderen Staaten schließen. Brexit-Vorkämpfer in Mays Partei lehnen den Backstop deshalb strikt ab. Die Brexiteers wollen die Klausel aufkündigen oder eine Garantie dafür, dass sie nie aktiviert oder zumindest zeitlich begrenzt wird. Doch da spielt die EU nicht mit.

Welche Folgen hätte ein Brexit ohne Abkommen?

Das Austrittsabkommen regelt die Bedingungen der Trennung. Es bestimmt etwa, dass Großbritannien der EU geschätzt 45 Milliarden Euro zahlen muss oder dass direkt nach dem Brexit eine Übergangsphase beginnt, in der sich bis mindestens Ende 2020 für Firmen und Bürger fast nichts ändert. Tritt der Vertrag nicht in Kraft, würde sich dagegen am Brexit-Termin sehr viel ändern. Handel über den Ärmelkanal würde dann den Regeln der Welthandelsorganisation WTO unterliegen, es gäbe Zölle. Exporteure müssten Zollformulare ausfüllen, die von den Lastwagenfahrern an den Häfen abgegeben werden. Aber weder die Häfen in Großbritannien noch auf dem Festland sind darauf vorbereitet, als Zollgrenze zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zu dienen. Chaos und Staus wären die Folge; der stete Nachschub für Fabriken und Supermärkte wäre gefährdet.

Muss es so schlimm kommen?

Ist klar, dass es auf einen Brexit ohne Vertrag hinausläuft, könnten London und Brüssel versuchen, mit Absprachen und Pragmatismus das Schlimmste zu verhindern. Die britische Regierung hat bereits zugesagt, bei einem ungeregelten Brexit Fluggesellschaften aus der EU weiter im Königreich fliegen zu lassen. Zölle und Bürokratie an der Grenze sind allerdings nicht zu vermeiden: Die WTO verbietet ihren Mitgliedern, Staaten einfach die Zölle zu erlassen - es sei denn, die Regierungen schließen einen Handelsvertrag ab.

Und wenn alles gut geht?

Billigt das Parlament in London das Austrittsabkommen, müssen sich die Abgeordneten gleich noch einmal damit befassen. Bei dieser zweiten Abstimmung geht es darum, den Vertrag in britisches Recht zu überführen. Am 29. März treten die Briten dann aus, und die Übergangsphase beginnt. Nach den Europawahlen im Mai wird eine neue EU-Kommission gebildet. Sobald diese arbeitsfähig ist, kann der schwierigste Teil der Brexit-Verhandlungen beginnen: der über die künftigen Beziehungen. Der 584-seitige Austrittsvertrag beschäftigt sich damit nicht, abgesehen von der umstrittenen Backstop-Klausel. Diese Regelung stellt sicher, dass niemals Zollkontrollen an der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland nötig sein werden.

Was wird angestrebt?

Zusammen mit dem Vertrag verabschiedeten die EU-Staats- und Regierungschefs eine unverbindliche politische Erklärung zu den künftigen Beziehungen. Diese 36 Seiten zählen Wünsche Brüssels und Londons auf, die recht vage und teilweise miteinander unvereinbar sind. Die britische Regierung und die EU wollen während der Übergangsphase einen Handelsvertrag abschließen, der deutlich umfassender als alle weltweit existierenden Abkommen ist. Gelingt das nicht bis Sommer 2020, ein halbes Jahr vor Ende der Übergangsphase, kann diese bis 2022 verlängert werden.

Werden die Gespräche schwierig?

Sehr. Großbritannien will erreichen, dass Handel über den Ärmelkanal so einfach bleibt wie bisher: keine Zollformulare, keine Verzögerungen in den Häfen, keine Kontrollen. Das Land bezieht fast ein Drittel seiner Lebensmittel aus anderen EU-Staaten; Fabriken halten nur Teile für wenige Produktionsstunden vorrätig und sind auf stete Zulieferungen vom Festland angewiesen. Ist derart reibungsloser Handel weiterhin möglich, müssen auch keine Zöllner an der inneririschen Grenze stehen und Laster herauswinken. Der von Brexit-Fans innig gehasste Backstop träte nie in Kraft.

Wo liegt das Problem?

Reibungsloser Handel existiert bisher bloß innerhalb der EU. Die Schweiz und Norwegen sind eng an die EU angebunden, sie genießen die Vorteile eines Binnenmarkt-Mitglieds. Und doch müssen Lastwagenfahrer aus diesen Ländern an der Grenze zur EU anhalten und Papiere einreichen. Das würde in den Häfen von Dover und Calais zu Chaos führen. Zugleich möchte die britische Regierung Einwanderung aus der EU kontrollieren, was Norwegen und die Schweiz nicht können. Außerdem will London eigene Handelsverträge abschließen und Zollsätze ändern dürfen.

Bei den Gesprächen mit Brüssel werden die Briten schnell merken, dass es den besten denkbaren Zugang zum EU-Markt nicht geben wird, ohne schmerzhafte Verpflichtungen einzugehen. Dann müssen Regierung und Parlament in London darüber streiten, was wichtiger ist: Freiheit oder problemloser Handel. Nach dem Spektakel der vergangenen Monate ist klar, dass dieser Streit sehr, sehr hässlich wird.

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Quelle:
SZ vom 04.01.2019/lüü
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