Brasilien:Rousseff vor der Amtsenthebung: Letzter Kampf der Guerrillera

Brasilien: Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wenige Tage vor der Parlamentsabstimmung.

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wenige Tage vor der Parlamentsabstimmung.

(Foto: AFP)
  • Das Parlament von Brasilien stimmt über die Amtsenthebung von Staatspräsidentin Dilma Rousseff ab.
  • Sollten Rousseffs Gegner sich durchsetzen, müsste der Senat noch zustimmen, dann würde sie suspendiert.
  • Das Land befindet sich in einer Wirtschaftskrise; das politische Chaos und die Spaltung der Bevölkerung in Anhänger und Gegner von Rousseff verstärken die Probleme.

Von Boris Herrmann, Brasília/Rio de Janeiro

In den 1950er Jahren wurde die Stadt Brasília als Symbol für Ordnung und Fortschritt errichtet. Ordem e progresso, das steht auch auf der brasilianischen Flagge. Im April 2016 müsste man eigentlich Chaos und Rückschritt draufschreiben. Die Präsidentin steht am Abgrund, die Wirtschaft befindet sich bereits im freien Fall und das Volk ist so zerstritten wie schon lange nicht mehr.

In Brasília verstellt jetzt ein Zaun die sonst freie Sicht auf die Regierungsgebäude. Das ist nicht nur ein Zeichen der Spaltung der Gesellschaft, das ist auch eine Sicherheitsmaßnahme. Hunderttausende Demonstranten werden am Sonntag in der Hauptstadt erwartet, wenn im Kongress über den Sturz von Präsidentin Dilma Rousseff abgestimmt werden soll. Die Rousseff-Fans sollen links der Mauer protestieren, ihre Gegner rechts. Man braucht wieder Barrikaden in Brasilien, um den Anschein von Ordnung zu wahren.

Die Frustration im Land ist groß, Rousseff wird auch deshalb stürzen

Mozart Vianna, 63, arbeitete vier Jahrzehnte in verschiedenen Verwaltungsfunktionen im brasilianischen Parlament. Der Mann, den alle als "Doktor Mozart" kennen, hat dort das Ende der Militärdiktatur 1985 erlebt, den Übergang zur Demokratie, das Impeachment-Verfahren gegen Präsident Collor. Die gegenwärtige Situation beschreibt er am Telefon so: "Wir befinden uns in einer demokratischen und moralischen Depression. Es fühlt sich an wie das Ende der Ära, die 1985 begonnen hat."

Wie es so weit kommen konnte in einem Land, das sich eben noch auf bestem Weg zur Weltmacht wähnte, das ist der Hauptstreitpunkt des aktuellen Kleinkrieges. Fest steht, dass die Frustration jetzt etwa so groß ist wie die einstigen Träume. Dilma Rousseff, 68, wird diesen Himmelsturz wohl nicht überstehen.

Doktor Mozart hat neulich seine Ämter im Parlament niedergelegt, er ist jetzt persönlicher Berater von Vizepräsident Michel Temer, 75. Von jenem Mann also, der gerade die Koalition mit Rousseff aufgekündigt hat und der ins höchste Staatsamt nachrückt, wenn die Präsidentin abgesetzt wird. Nach dem Parlament müsste ihre vorläufige Suspendierung zunächst noch vom Senat abgesegnet werden. Das gilt als Formalität. Mozart sagt: "Das ganze Land sehnt sich nach einem Wechsel."

Bis zu den Wahlen 2018 wollen Rouseffs Gegner nicht warten

Diese Wechselstimmung hat sich die Regierung auch selbst zuzuschreiben. Der natürliche Gang der Dinge wäre, dass sie bei den Wahlen 2018 dafür die Quittung erhält. So lange wollen Rousseffs Gegner aber nicht warten. Es ist kein juristischer Prozess gegen sie im Gange, sondern ein politischer. Die Zukunft der Präsidentin liegt nicht in der Hand von Richtern, sondern von Parlamentariern.

Das Impeachment wird auch nicht, wie oft suggeriert, mit Rousseffs mutmaßlicher Verstrickung in den Petrobras-Korruptionsskandal begründet (da ist die Beweislage dünn), sondern mit Verstößen gegen das Haushaltsgesetz. Alle wissen aber, dass es darum in Wahrheit nicht geht. Nicht einmal Rousseffs Widersacher versuchen diesen Anschein zu erwecken. Der Temer-Berater Mozart sagt: "In anderen Momenten wären Haushaltstricks nicht genug, um eine Präsidentin abzusetzen." Es sei die allgemeine Stimmungslage, die sie aus dem Amt fegen werde.

Nicht einmal auf ein Drittel der Parlamentarier kann die Präsidentin bauen

Die Impeachment-Debatte drehte sich noch nie um die konkreten Vorwürfe, sondern ausschließlich um die Zahl 172. So viele Stimmen müsste Rousseff am Sonntag zusammenkriegen, um ihren Sturz zu verhindern. 172, das ist ein Drittel aller Abgeordneten. Inoffiziellen Hochrechnungen zufolge sieht es schlecht für sie aus.

Man ahnt, wie es um die Machtposition einer Präsidentin bestellt ist, die nicht einmal mehr ein Drittel der Parlamentarier hinter sich weiß. In der sehr speziellen brasilianischen Demokratie muss man sich die Regierungsfähigkeit traditionell mit Posten und Gefälligkeiten erkaufen. Der ehemalige Präsident Lula da Silva war ein Meister dieser Disziplin. Rousseff hat hier vielleicht ihre größten Defizite. Die ehemalige Guerillera ist zu stur, vielleicht auch zu stolz, um in diesem Spiel zu bestehen. Auch deshalb entstand im Angesicht des Untergangs wohl die absurde Idee, Lula zurück ins Kabinett zu holen. Das hat die Lage eher verschlimmert, denn es lieferte allen Gegnern das nachvollziehbare Argument, es gehe Rousseff darum, ihren Mentor vor der Strafverfolgung im Fall Petrobras zu schützen. Ob Lula seinen Ministerposten antreten darf, wird demnächst vor Gericht entschieden - ob die Regierung dann noch existiert, ist eine andere Frage.

Rousseff startete mit neun Koalitionsparteien, die nun das sinkende Schiff verlassen. Oder wie es die Folha de São Paulo ausdrückte: "Vampire wenden sich von einem ausgebluteten Körper ab. Dilma Rousseff ist ein Zombie." Die Frage ist, wie es weitergeht, falls der Zombie die Abstimmung überstehen sollte. Rousseff müsste versuchen jene Abweichler, die sie als Putschisten beschimpft, zu einem nationalen Pakt zu überreden. Dafür braucht es viel Fantasie. Eine Lösung wären Neuwahlen, aber das ist nicht so einfach im brasilianischen Präsidialsystem. Wenn Rousseff zurücktritt, wird nicht gewählt. Dann rückt genau wie beim Impeachment ihr Gegenspieler Temer nach.

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