Brasilien:Zahlen des Misstrauens

Brasilien: Brasiliens Präsident trägt bei seinen Auftritten keine Maske. Aber Anhänger Jair Bolsonaros tragen Masken mit seinem Bild, wie hier an Rios Copacabana-Strand.

Brasiliens Präsident trägt bei seinen Auftritten keine Maske. Aber Anhänger Jair Bolsonaros tragen Masken mit seinem Bild, wie hier an Rios Copacabana-Strand.

(Foto: Carl de Souza/AFP)

Präsident Bolsonaro nimmt nach öffentlichem Druck sein Verbot zurück, Corona-Statistiken zu veröffentlichen. Nun sind die Zweifel an ihnen größer denn je.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Am Ende kamen die Zahlen dann doch noch - und es waren keine guten. 1382 Menschen seien allein zwischen Samstag und Sonntag im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben, meldete das brasilianische Gesundheitsministerium. Mehr Tote starben im selben Zeitraum nirgendwo anders auf der Welt, und noch nie gab es in dem Land so viele Tote aufgrund des Virus an einem Sonntag. Brasilien steht dazu ohnehin bei den Fallzahlen weltweit an zweiter Stelle, mit weit mehr als einer halben Million Infektionen. Doch anstatt etwas gegen das sich immer schneller ausbreitende Virus zu unternehmen, verlegt die Regierung in Brasília den Kampf nun allem Anschein nach einfach auf ein anderes Feld: die Statistik. Offizielle Daten zur Coronaepidemie werden nicht nur immer später veröffentlicht. Sie sind dazu zunehmend unvollständig, und zuletzt widersprachen sie sich sogar.

Es gibt mehr als eine halbe Million Infektionsfälle. Wie viele Tote es gibt, sei egal, sagt Bolsonaro

Dabei waren die offiziellen Statistiken lange zwar nicht aufmunternd, zumindest aber einigermaßen verlässlich. Seit Beginn der Epidemie in Brasilien gab das Gesundheitsministerium die neuesten Zahlen zu Ansteckungen und Todesopfern stets am späten Nachmittag bekannt. Je höher aber die Kurve kletterte, desto schneller wechselten die Minister, und desto später kamen auch die Statistiken. Letzte Woche dann wurde die Präsentation auf nach 22 Uhr verlegt. Zu spät, damit die Hauptnachrichten noch die neuen Fallzahlen berichten konnten. "Es ist egal, wie viele Tote es gibt", erklärte Präsident Jair Bolsonaro. Die Daten seien handfest, keiner müsse sich für einen Fernsehsender beeilen. "Von nun an ist das kein Thema mehr für die Hauptnachrichten", sagte der Präsident.

Gleichzeitig veränderte das Gesundheitsministerium am Wochenende auch noch die Darstellung der Daten zu Neuerkrankungen und Verstorbenen. Weder die Gesamtzahl der Toten im Zusammenhang mit Covid-19 wurde nunmehr genannt, noch die ungeklärter Verdachtsfälle oder ihrer Verbreitung über die Bundesstaaten des Landes. Kommunen und Bundesstaaten hätten eventuell die Höhe der gemeldeten Fälle aufgebläht, um so mehr Geld zu bekommen, so lautet die offizielle Begründung für den Schritt. Kritiker aber warfen der Regierung vor, das tatsächliche Ausmaß der Coronavirus-Epidemie in Brasilien verschleiern zu wollen.

Der von Bolsonaro im April gefeuerte ehemalige Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta sagte, das Fehlen objektiver Daten sei eine Tragödie für das Gesundheitswesen. Rodrigo Maia, Präsident des brasilianischen Parlaments und einer der prominentesten Gegner Bolsonaros, kündigte an, der Kongress werde von nun an eigene Daten zur Pandemie erheben. Mediziner sprachen vom Versuch, Informationen zu verschleiern, und Gilmar Mendes, Richter am Obersten Gerichtshof, von einem Trick totalitärer Regimes. Zuletzt wollten Juristen sogar prüfen, ob Bolsonaro nicht sogar eine Straftat begeht.

Der Druck wurde schließlich so groß, dass die Regierung am Schluss wieder zurückruderte. Man werde wieder detaillierte Daten veröffentlichen, hieß es aus dem Gesundheitsministerium. Dazu werde es auch eine neue Webseite mit Informationen und Statistiken zu den Verbreitungsgebieten geben. Wann genau diese starten soll und ob die offiziellen Statistiken in Zukunft wieder früher am Tag veröffentlicht würden, dazu gab es keine Informationen. Und nachdem am Sonntagabend die offiziellen Zahlen für die letzten 24 Stunden doch noch bekannt gegeben worden waren, schickte das Ministerium eineinhalb Stunden später abermals einen Bericht hinterher. Statt der 1382 Toten war nun auf einmal von 525 Opfern die Rede. Andere Zählungen kamen ohnehin auf ganz andere Zahlen.

Es war wie so oft in der aktuellen politischen Landschaft Brasiliens: Die Regierung und ihr Präsident preschen vor, es folgt ein Aufschrei der Entrüstung, am Schluss rudern Bolsonaro und seine Minister zurück. Meist ist es dann aber schon zu spät, der Schaden ist angerichtet, die Zweifel sind gesät: Auch wenn das Gesundheitsministerium in Zukunft wieder detaillierte Zahlen veröffentlichen sollte, es bleiben Vorbehalte bezüglich deren Vollständigkeit und tatsächlicher Aussagekraft.

Das ist umso tragischer, als Experten ohnehin schon seit Langem gewarnt hatten, dass die tatsächliche Zahl der Infektionen mit dem Coronavirus im Land bis zu 15 Mal so hoch sein könnte.

Obwohl die Zahlen weiterhin rasant steigen, haben in einigen Teilen des Landes bereits wieder Lockerungen begonnen. In Rio de Janeiro erlaubte Gouverneur Wilson Witzel die Öffnung von Restaurants und Einkaufszentren, solange diese die Hygienevorschriften einhalten würden. Gleichzeitig kam es in vielen brasilianischen Städten zu teils großen Demonstrationen gegen die Regierung und ihre Politik im Umgang mit dem Coronavirus.

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