Süddeutsche Zeitung

Brasilien:"Wir alle müssen irgendwann sterben"

Präsident Jair Bolsonaro predigt Normalität trotz Corona. Der Zuspruch eines Teils der Bevölkerung ist ihm sicher.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Keine 24 Stunden waren vergangen, seit Brasiliens Gesundheitsminister strengere Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus gefordert hatte, da stand Brasiliens Präsident am Sonntag schon wieder auf der Straße. Begleitet von Anhängern und neugierigen Anwohnern, besuchte Jair Bolsonaro Geschäfte und Läden in Vorstädten der Hauptstadt Brasília. Er sei dafür, alle Beschränkungen und Quarantänemaßnahmen aufzuheben, erklärte der rechtsextreme Politiker, alle sollten wieder arbeiten dürfen. "Wir werden dem Virus wie Männer gegenübertreten", sagte Bolsonaro und fügte dann hinzu: "Wir alle müssen irgendwann sterben."

Der Rundgang steht im krassen Gegensatz zu den Empfehlungen fast aller brasilianischen Gesundheitsexperten und auch den Forderungen von Bolsonaros eigenem Gesundheitsminister, Luiz Henrique Mandetta. Brasilien hat mehr als 4000 registrierte Corona-Erkrankungen, 140 Menschen starben in den vergangenen Wochen an den Folgen der Lungenkrankheit. Längst haben die allermeisten brasilianischen Bundesstaaten das öffentliche Leben eingeschränkt, Schulen und Geschäfte sind weitestgehend geschlossen, Rio de Janeiro und São Paulo stehen seit vergangener Woche unter Quarantäne.

Für viele geht es ums Überleben: Fast die Hälfte der Menschen hat keine reguläre Arbeit

Allein Präsident Bolsonaro kritisiert diese Maßnahmen. Brasilien müsse wieder zur Normalität zurückkehren, forderte er vergangene Woche in einer landesweit ausgestrahlten TV-Ansprache. Viele Menschen verließen daraufhin ihre Wohnungen und Ladenbesitzer öffneten wieder ihre Geschäfte. In mehreren Städten gab es sogar Autokorsos, die ein Ende der Quarantänemaßnahmen forderten.

Für viele Menschen in Brasilien geht es schon jetzt ums Überleben. Fast die Hälfte der Erwerbstätigen in dem Land hat keine reguläre Beschäftigung, keinen Arbeitsvertrag, keine Absicherung. Nun, da das öffentliche Leben still steht, fehlt das Geld für die Miete und immer öfter auch für die nächste Mahlzeit. Die Regierung hat Menschen mit informellen Beschäftigungen Hilfe versprochen, 600 Real sollen sie pro Monat bekommen, etwa 100 Euro, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.

Präsident Bolsonaro weiß darum, dass seine Forderungen nach einer Abschaffung aller Arbeitsbeschränkungen breiten Zuspruch finden, trotz potenzieller Gefahren für die Gesundheit von Millionen von Menschen. Am Sonntag erklärte der rechtsextreme Politiker, er denke darüber nach, die Beschränkungen landesweit per Dekret zu beenden.

Bolsonaro lobte unter anderem auch die angeblichen Erfolge mit dem umstrittenen Medikament Chloroquin. Der Kurznachrichtendienst löschte daraufhin erstmals zwei Beiträge des Staatspräsidenten. Sie widersprächen den Nutzungsbedingungen des Portals, weil sie zu einer Verbreitung des Covid-19 Virus führen könnten. Und auch aus dem Bundesstaat Rio gab es erneut Widerstand gegen den Präsidenten. Gouverneur Wilson Witzel verlängerte am Montag die Einschränkungen des öffentlichen Lebens um 15 Tage.

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Quelle:
SZ vom 31.03.2020
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