Brasilien-Besuch der Bundeskanzlerin:Merkel trifft die Abgestürzte

Angela Merkel bei Dilma Rousseff in Brasilien

Dilma Rousseff begrüßt Angela Merkel in Brasilien

(Foto: dpa)

Brasilien wollte eine neue Weltmacht werden. Nun sieht Präsidentin Dilma Rousseff apathisch dem Absturz und dem Aufstand der Enttäuschten zu.

Kommentar von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Wenn es nach dem sogenannten Ruf der Straße ginge, könnte Angela Merkel zu Hause bleiben. Zwar gibt es in Brasilien keine grundsätzlichen Einwände gegen die Kanzlerin und ihren Staatsbesuch, wohl aber gegen jene Frau, die Merkel Mitte der Woche im Planalto-Palast von Brasilia empfangen wird: Dilma Rousseff. Viele Brasilianer würden es begrüßen, wenn die deutsche Delegation dort vor verschlossenen Türen stünde. Dilma raus, am besten noch heute - dieser Satz ist in Brasilien gerade wohl mehrheitsfähig.

Am Sonntag demonstrierten wieder Hunderttausende in mehr als zweihundert Städten gegen Rousseff und ihre seit 13 Jahren regierende Arbeiterpartei. Deren zentrale Forderung lautete: Amtsenthebung. Auf so manchem Plakat wurde auch um einen Staatsstreich des Militärs gebeten. Die Umfragewerte der Präsidentin haben sich derweil im einstelligen Bereich eingependelt.

Das alles ist schon deshalb höchst erstaunlich, weil Rousseff vor nicht einmal zehn Monaten eine hart umkämpfte Wahl gewonnen hat. Es gibt für ihren epochalen Absturz nur eine schlüssige Erklärung: Ein Traum ist endgültig geplatzt. Der Traum von einem Brasilien als ewig prosperierendem Wohlfahrtsstaat, als Wachstumsmaschine der Südhalbkugel, als künftiger Weltmacht.

Die Arbeiterpartei verhieß eine Utopie und erhält nun Empörung

Die Frustration der Massen trifft die Arbeiterpartei auch deshalb so hart, weil sie an dieser Utopie für eine Weile ernsthaft gearbeitet hat. Die Regierungen Rousseffs - und mehr noch die ihres Vorgängers und Ziehvaters Lula da Silva - holten mit ihren Sozialprogrammen Millionen Brasilianer aus der Armut, der Mindestlohn stieg um 70 Prozent, die Reallöhne nahmen um gut 50 Prozent zu. Gleichzeitig wuchs die Wirtschaftsleistung auf scheinbar wundersame Weise, im Jahr 2010, auf dem Gipfel der weltweiten Brasilien-Euphorie, um 7,5 Prozent.

"I love this guy", sagte Barack Obama über seinen Kollegen Da Silva. Der verkündete: "Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Brasilianer." Lulas Traumstunde.

Was übrig bleibt: ein Scherbenhaufen

Fünf Jahren später ist davon nur noch ein Scherbenhaufen übrig. Die Wirtschaft schrumpft, die Währung verfällt, die Inflationsrate steigt. Jene Rating-Agenturen, die mit Staaten Monopoly spielen, stuften Brasilien-Anleihen auf Ramschniveau herab. Aber die aktuelle Krise wird genau so übertrieben dargestellt wie das angebliche Wunder von einst. Brasilien steuert keineswegs auf den Ruin zu. Es hat weiterhin sehr stabile Währungsreserven. Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich unter europäischen Verhältnissen.

Was nicht heißt, dass es keine strukturellen Probleme gebe. Um nur die wichtigsten zu nennen: die absurde Bürokratie, die systemische Korruption, die schlechte Ausbildung der Arbeiter, die mangelnde Produktivität der Industrie. All das sprach auch schon 2010 gegen Brasilien, nur damals hat es im allgemeinen Hype der Rohstoffpreise kaum jemand wahrgenommen.

Der Kardinalfehler von Lula und Rousseff war es, dass sie die Abhängigkeit ihres Landes vom Rohstoffexport eher erhöht als verringert haben. Brasilien ist heute mehr denn je auf die chinesische Nachfrage nach Eisenerzen angewiesen. Chinas Schwäche ist Brasiliens Schwäche. Auch der epische Schmiergeldskandal um den halbstaatlichen Erdölriesen Petrobras wirkt selbstredend nicht krisenhemmend, aber er ist kein wirklicher Faktor für die Volkswirtschaft. Nüchtern betrachtet, spricht es eher für den Standort Brasilien, dass der Kampf gegen die Korruption neuerdings ernsthaft geführt wird.

Nüchterne Betrachtungsweisen haben es aber traditionell schwer im Zuckerhut-Land. Kaum jemand glaubt Rousseff, dass sie nichts wusste von den kriminellen Machenschaften bei Petrobras. Tatsächlich wurden einige ihrer Parteikollegen verhaftet, aber auch einige ihrer politischen Gegner. Gegen die Präsidentin selbst liegt nichts Konkretes vor. Im Gegensatz zu Oppositionsführer Aécio Neves stand sie auch nie auf der Ermittlungsliste des Untersuchungsausschusses. Trotzdem werden die Forderungen nach einem politischen Umsturz vor allem mit dem Petrobras-Skandal begründet.

Das sagt womöglich mehr über die Demonstranten als über die Präsidentin aus. Es sind vor allem die alten Eliten, die derzeit die Proteste anführen. Jene mehrheitlich weiße Mittel- und Oberschicht, die im Umverteilungskurs der vergangenen Jahre etwas zu verlieren hatte. Unterstützt wird diese Bewegung von den größtenteils konservativen Massenmedien, die eine politische Kampagne gegen Rousseff führen. Die Präsidentin scheint unfähig zu sein, diesem Diskurs etwas entgegenzusetzen. Sie wirkt apathisch, sie wehrt sich nicht. Ihre Gegner wittern deshalb die große Chance, diese Regierung vorzeitig davonzujagen.

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