Wenn es nach dem sogenannten Ruf der Straße ginge, könnte Angela Merkel zu Hause bleiben. Zwar gibt es in Brasilien keine grundsätzlichen Einwände gegen die Kanzlerin und ihren Staatsbesuch, wohl aber gegen jene Frau, die Merkel Mitte der Woche im Planalto-Palast von Brasilia empfangen wird: Dilma Rousseff. Viele Brasilianer würden es begrüßen, wenn die deutsche Delegation dort vor verschlossenen Türen stünde. Dilma raus, am besten noch heute - dieser Satz ist in Brasilien gerade wohl mehrheitsfähig.
Am Sonntag demonstrierten wieder Hunderttausende in mehr als zweihundert Städten gegen Rousseff und ihre seit 13 Jahren regierende Arbeiterpartei. Deren zentrale Forderung lautete: Amtsenthebung. Auf so manchem Plakat wurde auch um einen Staatsstreich des Militärs gebeten. Die Umfragewerte der Präsidentin haben sich derweil im einstelligen Bereich eingependelt.
Das alles ist schon deshalb höchst erstaunlich, weil Rousseff vor nicht einmal zehn Monaten eine hart umkämpfte Wahl gewonnen hat. Es gibt für ihren epochalen Absturz nur eine schlüssige Erklärung: Ein Traum ist endgültig geplatzt. Der Traum von einem Brasilien als ewig prosperierendem Wohlfahrtsstaat, als Wachstumsmaschine der Südhalbkugel, als künftiger Weltmacht.
Die Arbeiterpartei verhieß eine Utopie und erhält nun Empörung
Die Frustration der Massen trifft die Arbeiterpartei auch deshalb so hart, weil sie an dieser Utopie für eine Weile ernsthaft gearbeitet hat. Die Regierungen Rousseffs - und mehr noch die ihres Vorgängers und Ziehvaters Lula da Silva - holten mit ihren Sozialprogrammen Millionen Brasilianer aus der Armut, der Mindestlohn stieg um 70 Prozent, die Reallöhne nahmen um gut 50 Prozent zu. Gleichzeitig wuchs die Wirtschaftsleistung auf scheinbar wundersame Weise, im Jahr 2010, auf dem Gipfel der weltweiten Brasilien-Euphorie, um 7,5 Prozent.
"I love this guy", sagte Barack Obama über seinen Kollegen Da Silva. Der verkündete: "Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Brasilianer." Lulas Traumstunde.