Brasilien:Soldaten in Rios Straßen

Brazilian navy soldiers patrol the Copacabana beach as part of a plan to combat organized crime in Rio de Janeiro

Immer, wenn die Politik und die Polizei nicht mehr weiter wissen, kommt in Brasilien die Armee. Auch an Rio de Janeiros berühmte Strandpromenade Copacabana.

(Foto: Sergio Moraes/Reuters)

Die hohe Zahl der Opfer von Schießereien kümmerte lange niemanden in Brasilien. Ein besonders tragischer Fall weckt nun die Politik - sie reagiert mit alten Reflexen und schickt das Militär.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Die Statistik sagt: 2723. So viele Menschen wurden im ersten Halbjahr 2017 im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro getötet. Die Zahl selbst scheint aber kaum noch jemanden zu schockieren. Denn sie erzählt wenig über die untragbaren Zustände, die sich dahinter verbergen. Um ansatzweise zu begreifen, hilft ein Größenvergleich: Im Bundesstaat Rio leben etwa 16 Millionen Menschen. In Deutschland, mit seinen 82 Millionen Einwohnern, wurden im gesamten vergangenen Jahr 373 Tötungsdelikte registriert - in Brasilien waren es im selben Zeitraum fast 60 000. Es hat den Anschein, als sei dieses Land gegenüber solchen unbegreiflichen Statistiken längst abgestumpft.

Vor allem in Rio und Umland hat man sich an Gewalt und tägliche Schießereien gewöhnt. Meistens treffen dabei schwer bewaffnete Drogenbanden auf Polizeieinheiten, die nicht als Ordnungsmacht auftreten, sondern als Kriegspartei. Nirgendwo werden so viele Polizisten angegriffen, nirgendwo schießt die Polizei so schnell wie in Rio. Zum Alltag gehören deshalb auch die vielen Querschläger, die Unbeteiligte verletzen oder töten. Schon weit mehr als 600 Menschen wurden dieses Jahr von solchen "Balas perdidas" getroffen, fast ausschließlich in der ärmeren Nordzone der Stadt und in den Favelas. Vielleicht einer der Gründe, weshalb sich die Politik lange Zeit allenfalls am Rande um das Problem kümmerte, vermuten Menschenrechtler.

Was das Land nun offenbar aufrüttelte, war keine Statistik, sondern ein Einzelschicksal: die Geschichte des kleinen Arthur. Er wurde Ende Juni vom Querschläger Nr. 624 getroffen - und zwar noch vor der Geburt, im Bauch seiner Mutter. Die Kugel traf ihn am Kopf, durchschlug seine Schulter und verletzte seine Wirbelsäule. Er kam per Not-Kaiserschnitt zur Welt und das Ultraschallbild mit den rot markierten Einschusslöchern wurde zu einem Symbol für die Gewaltexzesse in Rio und ganz Brasilien. Fernsehen und Zeitungen berichteten in allen Details über diesen Fall. Als sie von dem Querschläger getroffen wurde, hatte Arthurs Mutter Claudineia, 29, gerade einen Laden verlassen - mit einem gekauften Kinderwagen.

Die reichen Bürger rufen nach Bürgermilizen, Rechtspopulisten nach Militärinterventionen

Die tragische Geschichte hat die gesamte Debatte nachhaltig verändert. Dass er sich um sich Sicherheitslage in der zweitgrößten Stadt des Landes nicht sorge, muss sich Staatspräsident Michel Temer seither nicht mehr vorhalten lassen. Hochumstritten ist aber die Art und Weise, auf die er für Ordnung sorgen will: Vor einigen Tagen schickte Temer 8500 Soldaten nach Rio. Sie sollen mindestens bis Ende des Jahres dort bleiben, den Drogenhandel und den Waffenschmuggel bekämpfen, in die gefährlichsten Viertel einmarschieren und wichtige Verkehrsknotenpunkte absichern. Das hat inzwischen Methode. Immer wenn die Politik und die Polizei nicht mehr weiter wissen, kommt die Armee. Mit einer ähnlichen Maßnahme wurde im August 2016 auch schon eine halbwegs störungsfreie Durchführung der Olympischen Spiele durchgesetzt. Genau ein Jahr nach Olympia wirkt Rio jetzt wieder wie eine militärische Besatzungszone. Es ist nicht zu leugnen, dass sich viele Einwohner darüber freuen. Die Präsenz bewaffneter Soldaten gibt ihnen zumindest das Gefühl von Sicherheit. Zuvor war, gerade in den wohlhabenderen Stadtteilen, immer wieder der Ruf nach Bürgermilizen laut geworden. Und Rechtspopulisten wie der Bundesabgeordnete Jair Bolsonaro wissen diese Stimmung für sich zu nutzen. Unter anderem mit seiner Forderungen nach einer "Militärintervention" führt er in Rio inzwischen die Umfragen für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr an.

In einem Land, das sich erst vor gut 30 Jahren von seiner Militärdiktatur befreit hat, ruft diese Art der Sicherheitspolitik aber unweigerlich auch Argwohn hervor. Zu den Kritikern gehört etwa Marco Aurélio Mello, Richter am Höchsten Gerichtshof. Er beklagt eine allgemeine Militarisierung der Gesellschaft. Zumal in der Hauptstadt Brasília zuletzt auch Soldaten eingesetzt wurden, um Demonstranten gegen den unter Korruptionsverdacht stehenden Präsidenten Temer zurückzudrängen.

Menschenrechtsgruppen halten Temer vor, dass er in Rio eine Politik der Scheinsicherheit betreibe, anstatt sich um die Ursachen der Gewalt zu kümmern: um die unterbezahlten und deshalb oft korrupten Polizisten, um die sozialen Probleme, um die allgemeine Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher.

Am 30. Juli, genau einen Monat nachdem er in der Gebärmutter angeschossen wurde, starb der kleine Arthur im Krankenhaus. Die Zahl der Todesopfer des ersten Halbjahres hat sich damit nachträglich von 2723 auf 2724 erhöht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: