Im weiten Norden Brasiliens erzählt man sich ein Märchen, in dem ertrunkene Männer als Delfine im Amazonas weiterleben. Einmal im Jahr aber, in den rauschenden Nächten des Johannisfestes, steigen sie in der Gestalt von Jünglingen aus dem Wasser. Stets mit weißem Anzug und Hut bekleidet, verführen sie die schönsten Mädchen und verschwinden mit ihnen noch vor dem Morgengrauen wieder als Delfine im Fluss. Die Erzählung dient in Nordbrasilien vor allem dazu, voreheliche Schwangerschaften zu rechtfertigen. Söhne und Töchter von unbekannten Vätern heißen dort "filho do boto", Delfinkind.
Der schönste Teil dieses Märchens ist, dass es den Amazonasdelfin wirklich gibt. Fragt sich nur, wie lange noch. Im Gegensatz zu fast allen anderen Delfinarten lebt er im Süßwasser (auch während des Johannisfestes). Wegen seiner dünnen Haut und seiner guten Durchblutung schimmert er rosafarben. Er ist blind wie eine Fledermaus, seine Beute findet er mit den Tasthaaren an seiner überlangen Schnauze. Außerdem hat er Zähne, mit denen er Schildkrötenpanzer knacken kann. Die Geschichte dieser märchenhaften Wesen scheint aber nicht auf ein Happy End zuzusteuern. Laut einer soeben veröffentlichten Studie der Universität von Manaus verringert sich ihre Population alle zehn Jahre um die Hälfte.
Lange Zeit lebten die Flussdelfine offenbar im Schutz der Mythen und Sagen, die sie umranken. Viele Indianer am Amazonas verehren sie als heilige Tiere, als Boten der Wassergöttin. Aber bei der zunehmenden Erschließung des Regenwaldes als Wirtschaftsraum wird auf Mythen keine Rücksicht genommen. Wegen der ungebremsten Abholzung versanden Flüsse und Auen, Goldgräber verseuchen das Wasser mit Quecksilber, Dutzende Mega-Staudämme bringen das gesamte Ökosystem im Amazonasbecken aus dem Gleichgewicht. Die rosafarbenen Botos sind aber auch wegen der Wildjägerei bedroht. Ihr fetthaltiges Delfinfleisch wird offenbar in großem Stil als Köder für den Silberantennenwels eingesetzt, einen besonders in Kolumbien sehr beliebten Speisefisch. Weil er ein Aasfresser ist, wird er in Brasilien auch Urubu d'água genannt, der Geier des Wassers.
Zumindest im brasilianischen Teil Amazoniens gilt eigentlich ein strenges Gesetz zum Schutz des Amazonasdelfins. Wer ihn fängt oder gar klein gewürfelt an Wassergeier verfüttert, muss mit Haftstrafen zwischen zwei und fünf Jahren rechnen. Allerdings wird draußen in der Wildnis kaum jemand bei diesem Verbrechen erwischt.
Um die Delfine zu retten, wurden zuletzt einige Exemplare von einem Forscherteam mit GPS-Sendern ausgerüstet, angeschraubt an der Rückenflosse. Ein kurzer Schmerz, der langfristig zum Erhalt der ganzen Sippe beitragen soll. Über Satellitenfunk können die Wissenschaftler nun die Koordinaten ihrer Probanden verfolgen, so wollen sie mehr über deren Lebensweise und Wanderwege erfahren. Laut der Tierschutzorganisation WWF gehören die Amazonasdelfine immer noch zu den am wenigsten erforschten Säugetieren des Planeten. Auf der Roten Liste bedrohter Arten tauchen sie bislang nicht auf, weil es zu wenige Daten gibt. Das soll sich mit dem Peilsender-Projekt ändern.