Brasilien:Niemand ist sicher

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Die Justiz greift gegen Korruption durch: Nun muss auch der brasilianische Ex-Präsident Michel Temer in Haft. Er soll Kopf einer kriminellen Vereinigung sein.

Von Sebastian Schoepp, München

Zuerst erwischte es Luiz Inácio Lula da Silva, nun sitzt der nächste brasilianische Ex-Präsident wegen Korruption hinter Gittern. Michel Temer wird vorgeworfen, Kopf einer kriminellen Vereinigung zu sein. Der Richter Marcelo Bretas stellte einen Haftbefehl gegen Temer aus, weil er befürchtet, der frühere Staatschef könnte sonst Beweise vernichten. Temer wurde in São Paulo von einem Aufgebot schwerbewaffneter Polizisten festgesetzt und nach Rio de Janeiro gebracht.

Im Polizeiauto auf dem Weg zum Flughafen erreichte ihn der Anruf eines Radioreporters. Seine Verhaftung sei "eine Unverschämtheit", polterte Temer - was viel über sein Unrechtsbewusstsein aussagt. Der 78-Jährige hat seine ganze politische Karriere hindurch eine Haltung an den Tag gelegt, die ausdrückte, dass ihm gewisse Privilegien seiner Meinung nach zustehen. Erst durch sehr eifrige Ermittler ist diese Art politischer Folklore in Brasilien ins Wanken gebracht worden. Richter Bretas teilte nun mit, gegen diese Klasse Politiker müsse besonders rigide vorgegangen werden, deshalb die Haft für Temer.

Bei Temer geht es um ein Netz von Vorteilsnahme, das ihm über Mittelsmänner seit den 1980er-Jahren mehrere Hundert Millionen Euro eingebracht haben soll. Im Zentrum der Ermittlungen steht die Auftragsvergabe für das Atomkraftwerk Angra 3, ein brasilianisches Prestigeprojekt. Temer soll einer Firma Aufträge zugeschanzt haben. Daneben läuft ein halbes Dutzend weiterer Ermittlungen gegen den Staatschef der Jahre 2016 bis 2018.

Temers Verhaftung wurde von Medien als Signal der Justiz an die politische Klasse interpretiert: Niemand ist sicher. Bislang hatten Richter und Staatsanwälte sich mit Blick auf die lange Haft für den Ex-Präsidenten Lula häufig vorhalten lassen müssen, vor allem gegen Linke vorzugehen. Mit Temer hat es einen rechtskonservativen Karrierepolitiker erwischt, der Brasiliens Politik Jahrzehnte lang geprägt hat, als Mehrheitsbeschaffer und Nutznießer. Unter Dilma Rousseff hatte er es bis zum Vizepräsidenten gebracht. Dann war er einer der Motoren ihres Sturzes durch ein Impeachment, das Rousseffs Anhänger mindestens als Verrat, wenn nicht als Staatsstreich werten. Temer setzte sich an Rousseffs Stelle, zwei Jahre lang repräsentierte sein selbstzufriedenes Lächeln das größte Land Südamerikas.

Politisch leitete Temer einen Prozess ein, der die Umverteilungsmaßnahmen der linken Vorgängerregierungen zurückzunehmen begann. Seine Zustimmungsraten im Volk waren winzig, weshalb er zur Wahl 2018 gar nicht erst antrat. Die gewann der Rechtsextreme Jair Bolsonaro als vermeintlicher Saubermann. Gegen Temer wurde da bereits ermittelt, jedoch schützte ihn seine Immunität. Seit der Amtsübergabe am 1. Januar habe Temer in ständiger Angst gelebt, schreibt die Zeitung Folha de S. Paulo.

Temer gehört zu 150 Politikern aller Couleur, gegen die wegen Korruption ermittelt wird. In 50 Prozessen wurden Strafen verhängt, die sich auf 2242 Jahre Gefängnis summieren. Alles begann vor fünf Jahren mit dem Skandal Lava Jato (Autowäsche), bei dem es um die Vergabe überteuerter Aufträge an Baukonzerne ging. Inzwischen gibt es darüber eine Netflix-Serie, die "O Mecanismo" heißt und mit dem Superlativ wirbt, es gehe um den größten Korruptionsskandal aller Zeiten. Lava Jato zeige, schrieb ein Kritiker, dass Korruption in Brasilien weder von Parteizugehörigkeit noch von der Farbe der Uniform abhänge.

© SZ vom 23.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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