Brasilien:Im Augenblick

Kein Land Lateinamerikas verdrängt so systematisch seine Vergangenheit. Die Militärherrschaft? Folter und Mord? Ausgeblendet. Daran wird auch die unrühmliche VW-Historie wenig ändern.

Von Boris Herrmann

Vai passar, sagen die Brasilianer zu fast allen Sorgen, die sich ihnen im Alltag stellen. Wird schon vorübergehen. Das ist ein leichter Satz, in dem eine beklemmende Wahrheit steckt. Brasilien hat nie gelernt, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ein Großteil der Probleme wie Gewalt, Bürokratie oder Korruption hängen auch mit der kollektiven Weigerung zusammen, selbstkritisch zurückzublicken und Lehren zu ziehen. Stefan Zweig nannte Brasilien in seinem schwärmerischen Reisebericht das "Land der Zukunft". Viel treffender wäre heute: Land des Augenblicks.

Dass die Vergangenheit nicht so einfach vorübergeht, zeigt sich beispielhaft am Umgang mit der Militärdiktatur von 1964 bis 1985. Nach offiziellen Angaben sind in dieser Zeit 434 linke Regimegegner ermordet worden oder spurlos verschwunden. Im lateinamerikanischen Vergleich wird die brasilianische Herrschaft deshalb oft als eine Art Diktatur light bezeichnet. In Chile und Argentinien liegen die offiziellen Opferzahlen um ein Vielfaches höher. Das könnte aber auch daran liegen, dass in diesen Ländern mit einer ernsthaften Aufarbeitung begonnen wurde.

Kein Land Lateinamerikas verdrängt so die Vergangenheit

Brasilien aber weigert sich, anders als etwa Argentinien, strafrechtlich gegen die Täter vorzugehen. Dabei wird stets auf das Amnestiegesetz von 1979 verwiesen, mit dem sich die Generäle prophylaktisch selbst freigesprochen haben. Und die Welt kennt auch deshalb keinen brasilianischen Pinochet, weil Machthaber wie Emílio Garrastazu Médici oder Ernesto Geisel sich nie ihrer Verantwortung stellen mussten. Vieles von dem, was in den 21 Jahren der Diktatur tatsächlich geschah, liegt im Verborgenen. Es ist verschwunden in einer Erinnerungslücke.

Ähnliches gilt für die anderen Gewaltexzesse dieser Gesellschaft, für die Kolonialgeschichte und den Sklavenhandel. Nirgendwo wurden im 17. und 18. Jahrhundert so viele Zwangsarbeiter aus Afrika abgeladen, ausgebeutet und getötet wie in Rio. Bis heute gibt es nicht einmal ein Museum, das an diesen Genozid erinnert. Vai passar, meint ein Großteil der weißen Oberschicht, die Brasilien seit eh und je regiert und dominiert.

Hin und wieder öffnet sich aber selbst im Land des Augenblicks ein Fenster in die Vergangenheit. Dazu gehört das Ermittlungsverfahren der Bundesstaatsanwaltschaft São Paulo gegen Volkswagen do Brasil. In diesem Fall zeigt sich, dass die brasilianische Geschichte auch deutsche Geschichte ist. Nach Erkenntnissen der Ermittler hat sich der Konzern aus Wolfsburg zu Diktaturzeiten offenbar aktiv an der politischen Verfolgung von Regime-Gegnern beteiligt. Die brasilianische VW-Tochter hat eigene Mitarbeiter, Gewerkschafter und kritische Geister auf dem Werksgelände durch die Geheimpolizei verhaften lassen und sie damit mutmaßlich der Folter ausgeliefert.

Im Gegensatz zu Chile und Argentinien war die brasilianische Diktatur stets um eine rechtsstaatliche Fassade bemüht. Diese Fassade nutzte Volkswagen offenbar, um selbst über Unrecht hinwegzusehen. Im Geschäftsbericht von 1964 wird der Putsch der Generäle vom Frühjahr als "eine Konsolidierung der politischen Verhältnisse" bezeichnet. Die Militärregierung setzte auf Wirtschaftswachstum und innere Ordnung. Das waren Ziele, die sie mit dem deutschen Autobauer teilte. In Wolfsburg war man offenbar vor allem an den Verkaufszahlen interessiert. Und die stimmten zweifellos.

Manch einer mag den brasilianischen Staatsanwälten nun vorhalten, dass die Aufarbeitung besser gelinge, wenn man mit dem Finger auf ausländische Firmen zeigt. Das nimmt den bisherigen Erkenntnissen nichts von ihrer Brisanz, aber der Vorwurf ist auch nicht ganz falsch. Brasilien hat vor fünf Jahren immerhin eine Wahrheitskommission eingesetzt, auf deren Bericht das aktuelle Verfahren gegen VW do Brasil beruht.

Kein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt aber hat bislang das unsägliche Amnestiegesetz angetastet. Auch nicht die linksgerichteten Regierungen von Lula da Silva und Dilma Rousseff, obwohl beide zum Kreis der Diktaturopfer gehörten. Beide gelangten wohl zu dem Schluss, die weiterhin mächtigen Militärkreise gnädig stimmen zu müssen, um ihre Regierung zu sichern.

Rousseff, selbst Folteropfer, erlag da einem Trugschluss. Als sie 2016 des Amtes enthoben wurde, widmete ein Abgeordneter sein Votum in zynischen Worten dem bekanntesten Folterknecht der Diktatur. Dieser Abgeordnete, Jair Bolsonaro, liegt in aktuellen Umfragen für die Präsidentschaftswahl 2018 auf dem zweiten Platz. Er steht wie kein Zweiter für die Unfähigkeit Brasiliens, die Vergangenheit bei Licht zu betrachten.

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