Südamerika:Ethnie: flexibel

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In Brasilien leben Nachfahren indigener Völker, afrikanischer Sklaven und europäischer sowie asiatischer Einwanderer, Durchmischung war ausdrücklich erwünscht: Bild von einer religiösen Prozession in Salvador. (Foto: Joacy Souza/PantherMedia)

Hautfarbe und Herkunft sind in Brasilien eine Frage der Selbsteinschätzung - auch für den Vizepräsidenten.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Ein Merkmal guter Politik ist es, alte Gewissheiten zu hinterfragen, Forderungen zu verändern, manchmal auch ganze Wahlprogramme. Brasiliens Vizepräsident Hamilton Mourão geht bei alldem noch weiter: Er wechselt nicht nur die Fraktion oder die Partei, sondern gleich die Hautfarbe.

68 Jahre alt ist Mourão, ein General a. D., der 2018 zusammen mit Jair Bolsonaro kandidierte. Damals gab Mourão beim Obersten Wahlgericht an, "indigen" zu sein. Nun, vier Jahre später, steht im Meldebogen in der Kategorie "Rasse/Hautfarbe" aber auf einmal "weiß".

Hamilton Mourão, 69, wurde 2019 Vizepräsident. Nun bewirbt er sich um einen Sitz im Senat. (Foto: Lucio Tavora/Xinhua/Imago)

Erstaunlich? Bestimmt. Gleichzeitig aber auch nicht ungewöhnlich in Brasilien, denn so wie der Vizepräsident haben in den vergangenen Jahren gleich mehrere Dutzend Abgeordnete ebenfalls ihre ethnischen Angaben verändert. Und bei den Kommunalwahlen 2020 gab es sogar mehrere Tausend Kandidaten, die auf einmal schwärzer oder weißer waren als bei früheren Abstimmungen.

Hautfarbe und Herkunft sind in Brasilien grundsätzlich eine Frage der Selbsteinschätzung. In dem südamerikanischen Land leben Nachfahren indigener Völker, afrikanischer Sklaven und europäischer sowie asiatischer Einwanderer. Eine offizielle Rassentrennung gab es nie, im Gegenteil, eine Durchmischung war gewünscht. Ziel war es, afrikanisches und indigenes Erbe gewissermaßen auszuwaschen, am Ende aber entstand das Bild von Brasilien als fröhlichem Schmelztiegel - ein Klischee, das den weitverbreiteten Rassismus verdeckt.

Dass Politiker die Angaben zu ihrer Hautfarbe verändern, kann mehrere Gründe haben. Angst vor Diskriminierung lässt manche "weiß" werden, das Erstarken der afrobrasilianischen Bewegung andere wiederum "schwarz". Experten fürchten aber, dass es oft auch noch ganz andere und unlautere Motive gibt: Vor zwei Jahren beschloss das Oberste Wahlgericht Brasiliens neue Regelungen, um nicht-weiße Kandidaten zu fördern. Gut möglich, dass die Aussicht auf zusätzliches Geld und längere Wahlwerbespots bei einigen Politikern zu überraschender Flexibilität in Bezug auf ihre Hautfarbe geführt hat.

Und letztendlich sind da natürlich auch noch wahltaktische Gründe: Dass Hamilton Mourão 2018 als Rassenzugehörigkeit "indigen" angegeben hat, könnte weniger mit seinem Selbstverständnis zu tun haben als mit seinen rassistischen Kommentaren, glauben Kritiker. Bei einem Auftritt hatte Mourão damals gesagt, Brasilien habe das "Gaunerhafte" der Afrikaner und die "Trägheit" der Ureinwohner geerbt. Es folgte ein Sturm der Entrüstung, und um die Lage zu beruhigen, habe Mourão kurzerhand sein indigenes Erbe hervorgekramt, so die Theorie.

Viele sehen diese bestätigt, seit bekannt geworden ist, dass er bei den kommenden Wahlen als "weißer" Kandidat antreten will. Mittlerweile hat sich Mourão aber auch selbst zu Wort gemeldet: Alles ein unglücklicher Fehler, sagt er. Natürlich sei er stolz auf sein indigenes Erbe! Mit diesem tritt er nun an bei den Wahlen in Rio Grande do Sul. Drei Viertel der Menschen in dem südbrasilianischen Bundesstaat gaben bei der letzten Volkszählung übrigens an, weiß zu sein. Indigene Wurzeln, so wie Mourão, haben dagegen nicht mal ein Prozent.

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