Süddeutsche Zeitung

Kriminalität in Favelas:In Brasiliens Abgründen

Misha Glenny beschreibt Brasiliens hässlichste Seiten: Da sind Gewalt, Drogen - und mittendrin ein Verbrecher-König, der sagt: "Jeder tötet."

Rezension von Michaela Metz

Es ist kurz nach Mitternacht am 9. November 2011, als Antônio Francisco Bonfim Lopes, in ganz Brasilien unter dem Namen ,Nem aus Rocinha' bekannt, verhaftet wird. Der meistgesuchte Mann in Rio, genauer gesagt: in ganz Brasilien, ist endlich hinter Schloss und Riegel. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung befindet sich Nem im Zentrum eines Netzwerks aus Korruption, Gewalt, Drogen und politischer Intrige, welches Rio de Janeiro fast ein Vierteljahrhundert lang im Würgegriff gehalten hat."

Misha Glenny, britischer Experte für organisiertes Verbrechen, porträtiert in diesem gut recherchierten, spannend und kenntnisreich geschriebenen Sachbuch die Favela "Rocinha" in Rio de Janeiro von 1960 bis 2011 und erzählt das Leben ihres berühmtesten Bewohners: Antônio Francisco Bonfim Lopes, genannt "Nem" (Baby). Es kommt zunächst ein wenig reißerisch daher.

Auf dem Cover breitet "der König der Favelas" dämonisch seine Arme über Rio de Janeiro aus. Auch der Untertitel haut auf die Pauke: Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption. Doch was zunächst wie eine Neuauflage von Paulo Lins' Roman "City of God" daherkommt, ist ein True-Crime-Thriller über ein überwältigend schönes Land mit hässlichen Statistiken.

Jedes zehnte Mordopfer weltweit ist ein Brasilianer. Die Polizei in Rio war lange genauso gefährlich wie jede x-beliebige Gangsterbande. Etwa bei Militäreinsätzen mit gepanzerten Raupenfahrzeugen gegen die eigene Bevölkerung zur "Befriedung" der Favelas - der korrupten brasilianischen Polizei widmet der Autor ein eigenes Essay im Anhang.

"Mix aus konkurrierenden Interessen, Chaos und Waffen"

Die Favela Rocinha wächst direkt oberhalb der noblen "Zona Sul" den "Zwei-Brüder-Berg" hinauf. Die Aussicht auf die Stadt und den Atlantischen Ozean ist berauschend. Heute quartieren sich hier Touristen in bunt bemalten Hostels ein und für die Mittelschichtkids aus Copacabana, Ipanema, Leblon und Gávea gibt es nichts Cooleres als die Funkpartys, die hier steigen.

Die erste Adresse ist der "Club Emoçoes". Doch wie lebt man hier? "Menschen schreien und bieten alle Arten von Waren an, Halbwüchsige spazieren umher und haben dabei halb automatische Waffen umgehängt. Überall liegt Müll herum - auf den Hauptstraßen, in jeder Gasse." So wirkte Rocinha 2004 auf eine aus der Vorstadt neu hinzugezogene Frau, ihr blieb die Spucke weg.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch bietet der Verlag hier an.

Doch Glennys Bericht beginnt an einem anderen Ort, der an das ländliche Texas der 60er-Jahre erinnert, fern der Metropole Rio de Janeiro. In Campo Grande, der Hauptstadt des Bundesstaates Mato Grosso, tief im Inneren Brasiliens, sitzt der frühere Boss der Favela nun im Knast. Nems Verhaftung geriet in Brasilien zum Medienereignis. Sie war eine Sensation.

Der Journalist Glenny interviewte den "Staatsfeind Nr. 1" unter strengsten Auflagen im Gefängnis. Wie gerät man hinein in dieses Leben? Drogenboss, Chef einer Favela von der Größe einer Kleinstadt? Zugleich Ehemann und Familienvater? Wie bewegt man sich auf dem schmalen Grat, der Leben und Tod voneinander trennt? Im Hochsicherheitstrakt findet Glenny einen intelligenten, fast sanftmütigen Interviewpartner vor.

Mit diesem sehr persönlich erzählten Einzelschicksal vermittelt Glenny dem Leser en passant unzählige Fakten, Zeitgeschichte und Zusammenhänge. Was dabei entsteht, ist ein scharf gezeichnetes, abgründiges Bild der brasilianischen Gesellschaft. "Wenn man sich Rio und den brasilianischen Süden als USA vorstellt, dann war der Nordosten das dazugehörige Mexiko", schreibt Glenny anschaulich.

Er erklärt die Unterschiede zwischen Rio und São Paulo. Rio erinnert noch heute an das lebensfrohe Laisser-faire des portugiesischen Königshofs, der einst vor Napoleon nach Brasilien floh. Dagegen steht São Paulo mit unschlagbarer Unternehmergesinnung und dem Sitz der Finanzbranche. Rios Favelas kleben mitten in der Stadt an den Hügeln, die Slums von São Paulo liegen weit außerhalb.

Glenny beleuchtet die Netzwerke der Drogenclans in den großen Favelas von Rio als ein System wechselnder Allianzen. Ein Kapitel des Buches heißt "Leichen", ein anderes "Massaker" und "Nemesis", denn die Kämpfe fordern unzählige Tote. Die Identifikation der Favelados mit ihrem "Hügel" ist in Rio besonders groß, "jede Schlucht eine Nation", wie der Autor und Sänger Chico Buarque es einmal formulierte. Wer die Grenze überschreitet, kann einen Krieg auslösen. Und verliert sein Leben.

Die Herrschaft der Favelachefs gleiche einer aufgeklärten Diktatur, erklärt Glenny, "mit einem ungebundenen, rechenschaftslosen Boss, dessen Macht auf einer großen Anzahl junger Männer ohne Ausbildung, dafür aber mit gefährlichen Waffen beruht. Als Wegweiser dienen dabei Arbeitslosigkeit, Testosteron, Gewinnsucht und Abwesenheit - Abwesenheit von Vaterfiguren, Schulen, des Staats und einer Zukunft". Umgeben von Luxus. Nur mit Drogengeld eröffnet sich ein Zugang zu einer Glitzerwelt, deren Bilder in der Stadt omnipräsent sind.

Am Ende liegt Nem eingepfercht im Kofferraum eines schwarzen Toyota Corolla. Plötzlich ist der mächtige Clanchef denen ausgeliefert, die er beherrschte. Den zweifelhaften Weggefährten, die jetzt machthungrig um seine Pfründe kämpfen, nervösen, schwer bewaffneten Beamten der berüchtigten Militärpolizei, den Politikern, die mit seinem Scheitern ihren Wahlkampf beflügeln werden.

Oder hat er auch das listig eingefädelt, um sich nicht ergeben zu müssen? "All dies ereignet sich nur wenige Hundert Meter entfernt vom Sitz des größten Medienkonzerns von Brasilien, O Globo. Was zur Folge hatte, dass das Durcheinander binnen Kurzem um zahlreiche Fernsehkameras, Blitzlichter, Mikrofone und vor allem lauthals gestikulierenden Journalisten ergänzt wurde. Ein explosiver Mix aus konkurrierenden Interessen, Chaos und Waffen."

Glenny nimmt dem verurteilten Gangster seine Version der Geschichte ab, manchmal scheint es, als komme er ihm zu nah: "Bei den Gesprächen mit Nem war mir, als würde dieser Mensch wahnsinnig gerne Gutes tun, nur war das unmöglich, weil er ja schließlich für eine große Gruppe bewaffneter Männer und eine Verbrecherorganisation verantwortlich war, die gewaltige Umsätze generierte." Ist das wirklich ein Killer? Doch Glenny hat alle Seiten befragt. Der Journalist gilt als unbestechlich, er lebte selbst zeitweise in Rocinha. Er interviewte die Anwälte, die Familie, Freunde, Feinde, Drogenhändler, Polizisten, investigative Ermittler und Politiker.

Gute Drogenhändler gebe es nicht, sagte ihm ein Interviewpartner, "es gibt nur solche, die weniger schlimm sind als der Rest. Sie sind alle schlecht - jeder tötet."

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SZ vom 18.04.2016/odg
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