Brasilien:Der ehrenwerte Herr Massenmörder

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Franz Stangl war Kommandant in den Konzentrationslagern Sobibor und Treblinka, später entkam er nach Brasilien - und heuerte dort unter Klarnamen bei Volkswagen an. Was wusste der Konzern?

Von Stefanie Dodt und Boris Herrmann, São Paulo/Wolfsburg

Im Februar 1967 erhielt Franz Stangl sein letztes Gehalt bei der Firma Volkswagen do Brasil. Es betrug: "ncruz. 1.166,00". Damals wurde in Brasilien mit der Währung Cruzeiro novo bezahlt. 1166 ncruz entsprachen etwa 430 US-Dollar. Das geht aus unternehmensinternen Akten hervor, die NDR und Süddeutsche Zeitung einsehen konnten. Stangl arbeitete demnach acht Jahre lang bei der brasilianischen Tochter des Wolfsburger Autokonzerns "in der Betriebsinstandhaltung". Bis zum 28. Februar 1967, dem Tag, als er in São Paulo verhaftet wurde. Als weltweit gesuchter Kriegsverbrecher.

Der SS-Hauptsturmführer Franz Paul Stangl, geboren 1908 in Altmünster in Österreich, war laut seinem späteren Gerichtsurteil am nationalsozialistischen Euthanasieprogramm "T4" beteiligt. Er erhielt das "Kriegsverdienstkreuz I. und II. Klasse mit Schwertern" und wurde 1942 befördert. Zum Lagerkommandanten der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka. Im Dezember 1970 verurteilte ihn das Düsseldorfer Landgericht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen "gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 400 000 Personen". Er starb sechs Monate später an einem Herzinfarkt.

Unmittelbar nach Kriegsende hatte Stangl schon einmal in Haft gesessen, er konnte aber flüchten. Über Syrien wanderte er 1951 mit seiner Familie nach Brasilien aus. Dort lebte er 16 Jahre lang unbehelligt unter seinem richtigen Namen, obwohl er international zur Fahndung ausgeschrieben war. Die Stangls bauten sich ein Haus in einem Vorort von São Paulo. Dort wurde 1959 auch die erste Fabrikhalle der brasilianischen VW-Tochter eingeweiht. Franz Stangl bekam sofort eine Stelle.

Wie konnte das passieren? Wusste sein Arbeitgeber nichts von seiner Vergangenheit als Massenmörder?

"Wir kannten sicher nicht die Namen von KZ-Kommandanten auswendig"

Einen Monat nach Stangls Verhaftung äußerte sich dazu der damalige VW-Vorstandschef Friedrich Wilhelm Schultz-Wenk intern. In einem Brief an Herrn H. Krüger von der Rechtsabteilung in Wolfsburg schrieb er: "Ich muss wirklich entschieden ablehnen, dass von irgendeiner Seite behauptet wird, der Vorstand der VW do Brasil sei den ehemaligen Nazis gegenüber wohlwollend eingestellt." Schultz-Wenk war selbst Mitglied der NSDAP. In dem Schreiben bestätigte er, dass Stangl bei VW unter seinem Klarnamen gearbeitet hatte. Aus Sicht des Konzernchefs war es selbstverständlich, dass jede Fabrik versuchte, gute Fachkräfte zu bekommen. "Der VW do Brasil und auch jeder anderen Industrie ist es völlig gleichgültig, welcher Religionsgemeinschaft jemand angehört." Der Nationalsozialismus als Religionsgemeinschaft? Wenn das so nicht gemeint war, dann steht es jedenfalls sehr missverständlich da. Unmissverständlich ist dagegen eine andere Stelle. Schultz-Wenk rechtfertigte die Anstellung von Franz Stangl nämlich auch so: "Außerdem verbietet es das brasilianische Gesetz, irgendwelche Fragen zu stellen bzw. Informationen über Arbeiter und Angestellte einzuholen."

VW do Brasil - ein Unternehmen, das Recht und Gesetz verpflichtet ist, das die Privatsphäre seiner Mitarbeiter schützt, so hört sich das an. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Es klingt zynisch.

Recherchen von NDR, SWR und SZ haben ergeben, dass sich der VW-Konzern in der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur (1964 bis 1985) offenbar aktiv an politischer Verfolgung von Regime-Gegnern beteiligte. Der sogenannte Werkschutz in São Paulo agierte demnach wie ein Geheimdienst, der die eigene Belegschaft ausspionierte. Offenbar hat VW do Brasil auch politische Verhaftungen durch die Geheimpolizei auf dem Werksgelände zugelassen und die Betroffenen damit der Folter ausgeliefert. Die Recherchen ergaben, dass der Vorstandschef in Wolfsburg im Jahr 1979 persönlich über die Verhaftungen informiert wurde.

Vom Schutz der Privatsphäre dieses Teils der Belegschaft kann also keine Rede sein. In den Akten der Politischen Polizei finden sich auch Fotos aus dem Privatleben von Angestellten. Der ehemalige VW-Arbeiter Expedito Batista berichtet über die Bespitzelung: "Sogar an der Toilettentür standen Aufpasser, alle in zivil, um unsere Gespräche zu belauschen. Aber sie waren alle vom Werkschutz."

Das alles legt zumindest den Verdacht nahe, dass es bei VW do Brasil zwei Arten von Persönlichkeitsrechten gab. Linksgerichtete Mitarbeiter wurden offenbar bis auf die Toilette verfolgt. Und ein NS-Kriegsverbrecher arbeitete acht Jahre lang unbehelligt unter seinem Klarnamen.

Der ehemalige VW-Chef Carl Hahn, der zur betreffenden Zeit dem Aufsichtsrat der Konzerntochter in Brasilien angehörte, kann darin auch heute noch keinen Skandal erkennen: "Wir kannten sicher nicht die Namen von KZ-Kommandanten auswendig", sagt er. "Und dass die dort angestellt werden, wenn die aus Deutschland kommen, das war, glaube ich, eine ganz normale Geschichte." Und wie normal war es, dass gleichzeitig Gewerkschaftsaktivisten verfolgt und gefoltert wurden? Davon hat Hahn nach eigenen Angaben nichts mitbekommen. Was er einräumt: "Wir sind keine Kommunisten gewesen, muss ich Ihnen allerdings bekennen."

Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Unternehmensleitung von VW bis zum Tag der Verhaftung Stangls tatsächlich wusste, wen sie da angestellt hatte. Bezeichnend ist aber, was offenbar in den Tagen danach geschah. Die Weltpresse berichtete Ende Februar 1967 ausführlich über die Ergreifung des einstigen KZ-Aufsehers. Dokumente legen nahe, dass sich VW do Brasil derweil um einen Rechtsbeistand für Stangl kümmerte. Das behauptete unter anderem Simon Wiesenthal, der damalige Leiter des jüdischen Informationszentrums in Wien. Auch deutsche Diplomaten in Brasilien kommunizierten intern, dass Volkswagen offenbar einen Anwalt für den Kriegsverbrecher besorgt hatte. Volkswagen dementierte das.

Franz Stangl, 1908 geboren, war Kommandant der NS-Vernichtungslager Treblinka und Sobibor. Er tauchte in Syrien und später Brasilien unter. 1967 wurde er an Deutschland aufgeliefert. (Foto: SZ Photo)

Die Recherchen des sogenannten Nazi-Jägers Wiesenthal hatten einen wesentlichen Beitrag zur Verhaftung Stangls geleistet. Im März 1967 schrieb er einen Brief an den nordrhein-westfälischen Justizminister Josef Neuberger, in dem er mitteilte, "dass das Volkswagenwerk in Sao Paulo Stangl seinen Anwalt gegeben hat, Dr. Garzia, der sich natürlich bemüht, der Auslieferung entgegenzuwirken". Gemeint war Basileu Garcia, damals einer der renommiertesten Strafverteidiger Brasiliens. Außerdem, so Wiesenthal, übten deutsche Industriekreise einen großen Druck auf brasilianische Wirtschaftskreise aus, damit die Auslieferung vereitelt werde. Die deutschen Firmen befürchteten demnach, dass die Causa Stangl einen Abzug von deutschen Fachkräften aus Brasilien zur Folge haben könnte. Die jüdische Gemeinde in Wien forderte eine Intervention des deutschen Botschafters in dieser Sache.

Es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, ob das Auswärtige Amt tatsächlich einschritt. Garcia übernahm am Ende jedenfalls doch nicht Stangls Verteidigung. Im Auslieferungsverfahren wurde er von einem anderen Anwalt vertreten, den Österreich bezahlte. Genützt hat es nichts. Im Juni 1967 wurde Franz Stangl an Deutschland ausgeliefert.

Der VW-Konzern in Wolfsburg will sich bislang inhaltlich weder zum Vorwurf der Kollaboration mit der Militärdiktatur noch zum Fall Stangl äußern. Dabei wurde stets auf ein Gutachten verwiesen, das bei dem Historiker Christopher Kopper in Auftrag gegeben wurde und bis Ende des Jahres vorliegen soll. Nun bestätigt VW auf Anfrage, dass Kopper sein Gutachten bereits eingereicht hat. Rogério Varga, Anwalt von VW do Brasil, geht davon aus, dass seine Firma von der Vergangenheit Stangls nichts wusste. Zum Zeitpunkt seiner Einstellung habe er sich unauffällig verhalten.

Dass Stangl in Brasilien ein anderer Mensch wurde, darauf deutet wenig hin. 1971, kurz vor seinem Tod, gab Franz Stangl im Düsseldorfer Gefängnis der Journalistin Gitta Sereny ein Interview. 70 Stunden lang sprachen die beiden. Über Treblinka, Sobibor und auch über die Zeit in Brasilien. Sereny zitierte Stangl so: "In Brasilien bei VW muss man die Dummheit einiger Leute gesehen haben (...). Es gab Idioten unter ihnen - Schwachsinnige (...). Mein Gott, sagte ich zu ihnen, euch hat man wohl bei der Euthanasie vergessen, was?"

© SZ vom 27.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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