Süddeutsche Zeitung

Brasilien:1200 Seiten Sprengstoff für Bolsonaro

Ein Corona-Untersuchungsausschuss macht dem brasilianischen Präsidenten schwere Vorwürfe: Zwischenzeitlich war sogar von Mord und Genozid die Rede, nun immerhin noch von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Von Christoph Gurk, São Paulo

Ganz zum Schluss also noch mal ein großer Knall: Nach fast sechs Monaten Arbeit ist in Brasilien der vorläufige Abschlussbericht der sogenannten CPI veröffentlicht worden, der comissão parlamentar de inquérito, einer parlamentarischen Untersuchungskommission, die sich mit potenziellen Versäumnissen der Regierung von Jair Bolsonaro im Kampf gegen die Corona-Pandemie im Land befasst. Und glaubt man den Verfassern, sind diese tatsächlich gravierend.

Von Inkompetenz und Fahrlässigkeit ist da die Rede, von gezielt gestreuten Falschinformationen, Scharlatanerie und in einer zwischenzeitlichen Version sogar von Mord: "Präsident Jair Bolsonaro hat seine Pflicht verletzt, den Tod Tausender Brasilianer zu verhindern", er solle angeklagt werden, empfiehlt der Bericht, wegen seiner Mitschuld an der immens hohen Zahl von Corona-Toten, die es in dem Land gegeben hat. Ebenso fordert der Untersuchungsausschuss, auch etwa 60 andere Personen vor Gericht zu stellen, darunter den ehemaligen Gesundheitsminister und die Söhne von Bolsonaro.

Fast 1200 Seiten umfasst der Bericht, er ist rein theoretisch gesehen nur ein Entwurf, über den noch abgestimmt werden muss. In der Praxis aber hat er schon eingeschlagen wie eine Bombe: Brasilianische Medien haben das Schreiben schon am Dienstagnachmittag veröffentlicht und aus ihm zitiert.

"Man wollte die Bevölkerung gezielt dem Virus aussetzen"

Der Präsident und seine Regierung, so die Argumentation der Autoren, hätten sich bewusst dafür entschieden, Impfstoffe nicht frühzeitig zu kaufen. Dies habe vermutlich Tausenden Menschen das Leben gekostet. "Brasilien hätte eines der ersten Länder der Welt sein können, welches mit einer Massenimmunisierung beginnt", heißt es in dem Entwurf des Abschlussberichts. Stattdessen aber hätten Bolsonaro und sein Kabinett Vertragsabschlüsse mit Vakzinherstellern verzögert: Mails, mit denen sich zum Beispiel das Pharmaunternehmen Pfizer bereits Mitte vergangenen Jahres an die brasilianische Regierung gewandt hatte, blieben einfach unbeantwortet, über Wochen hinweg.

Bolsonaro habe damit gegen alle Ratschläge von Experten gehandelt, die "täglich betonten, dass nur Impfungen Leben retten". Man habe sich in der Regierung bewusst gegen eine Prävention durch Immunisierung entschieden, so die Autoren, und stattdessen viel Geld für höchst umstrittene Medikamente ausgegeben. Und letztlich sei das Ziel ohnehin keine groß angelegte Impfkampagne gewesen: "Man wollte die Bevölkerung gezielt dem Virus aussetzen, damit schneller eine Herdenimmunität erreicht werden kann", so der Bericht.

Statistisch gesehen hat sich bis heute jeder zehnte Brasilianer mit Covid-19 infiziert, die Dunkelziffer dürfte allerdings noch um ein Vielfaches höher liegen. Mehr als 600 000 Menschen sind in dem Land schon an oder im Zusammenhang mit dem Erreger gestorben und viele Menschen fragen sich, ob ihre Angehörigen nicht noch am Leben sein könnten, wenn die Regierung anders gehandelt hätte und Präsident Bolsonaro das Virus und seine Gefahren ernst genommen hätte, statt sie kleinzureden.

Auch darum hat der parlamentarische Untersuchungsausschuss in den vergangenen Monaten für so viel Aufregung gesorgt: Ihm gehören elf Mitglieder an, darunter sieben Senatoren, die den Präsidenten kritisch sehen. Seit Ende April tagt der Ausschuss, seine Sitzungen wurden live im Fernsehen und im Netz übertragen und von Millionen Brasilianern gebannt verfolgt.

Mediziner, Wissenschaftler, Menschenrechtler, Unternehmer und auch Politiker wurden vorgeladen, darunter die ehemaligen Gesundheits- und der Ex-Außenminister sowie engste Mitarbeiter aus Bolsonaros Umfeld. Grundlegend Neues kam dabei nicht zu Tage, der CPI war auch eine große Show, mit Zeugen in kugelsicheren Westen, Wortgefechten und Anschuldigungen.

Präsident Bolsonaro hat den Untersuchungsausschuss stets kritisiert und sich bis jetzt auch noch nicht zu dem Abschlussbericht geäußert. Die Frage ist aber ohnehin, welche konkreten Folgen er haben wird. Wenige Stunden nachdem der Bericht an die Öffentlichkeit gelangt war, wurde der Vorwurf des Mordes offenbar wieder gestrichen. Einigen Senatoren war er wohl zu weit gegangen. Der Hauptvorwurf sind nun Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Der Imageverlust könnte Bolsonaro die Wiederwahl kosten

Eine tatsächliche Anklage gegen den Präsidenten ist aber in jedem Fall höchst unwahrscheinlich. Der Generalstaatsanwalt müsste zu dem Schluss kommen, dass genug konkrete Beweise vorliegen, um Ermittlungen einzuleiten. Diese liefert der Bericht trotz seiner 1200 Seiten aber nur bedingt, dazu ist der Generalstaatsanwalt auch noch ein Verbündeter Bolsonaros. Ebenso unwahrscheinlich ist ein Amtsenthebungsverfahren im Anschluss an den CPI. Bolsonaro hat sich im Kongress die Unterstützung des mächtigen Centrão-Blocks gesichert, der stets demjenigen folgt, der die meisten Posten und Pfründen zu vergeben hat.

Die schwerwiegendste Folge des Berichts ist darum wohl der Imageverlust: Seit Monaten sinken die Umfragewerte Bolsonaros, die Wirtschaft sackt ab, Armut und Arbeitslosigkeit steigen. Im kommenden Jahr sind Wahlen, Bolsonaro möchte aller Wahrscheinlichkeit nach noch einmal antreten. Das Versagen seiner Regierung im Kampf gegen Covid-19 könnte viele Wähler dazu bringen, ihre Stimme jemand anderem zu geben.

Gut möglich, dass der Bericht auch darum mit der Forderung endet, ein Denkmal für die Covid-19-Toten zu errichten, ebenso wie mit einem fast beschwörend wirkenden Satz: "Wir werden niemals vergessen."

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