Taktik und Strategie sind wichtige Begriffe im Spitzensport. Und wenn die USA jetzt die Debatte um einen Olympiaboykott starten, so tun sie das aus ihrer ureigenen Perspektive heraus zu einem taktisch günstigen Zeitpunkt. Noch knapp ein Jahr ist es hin, bis die Winterspiele, die erstaunlicherweise an die Smog-Metropole Peking vergeben wurden, am 4. Februar 2022 eröffnet werden sollen. Viel Zeit also, um in den diversen Menschenrechtsfragen, die nicht nur in Washington als potenzieller Boykottgrund genannt werden, täglich einseitig den Druck zu ventilieren, mal mehr, mal weniger.
Zumal China zumindest auf dem begrenzten Spielfeld des Sports eine adäquate Gegenreaktion schwerfallen dürfte. Auf diesem Feld wird, historisch durch zahlreiche Beispiele belegt, nach einem Wie-du-mir-so-ich-dir-Verfahren abgerechnet. So war das schon bei den alten Griechen, den Spiele-Erfindern, die zwar den olympischen Frieden, eine Art Waffenstillstand, erfanden, je nach Kalkül aber mit den Mitteln von Boykott und Krieg dagegen verstießen. Die Idee von Olympia in ihrem Kern ist bis heute durchaus groß, sie wurde aber schon damals zwischen Sparta, Elis und Athen bei Bedarf auf dem Altar der Macht geopfert.
Mehr als 40 Staaten blieben den Spielen in Moskau fern
Getreu dieser Automatik könnten Chinas Strategen theoretisch schon jetzt eine Gegenreaktion androhen. Ähnlich wie im größten Boykott-Geschacher der Neuzeit, als das Olympia der Friedfertigen in den Mühlen des Kalten Krieges schwer beschädigt wurde. 1980, kurz nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, boykottierten unter Anleitung der Amerikaner mehr als 40 Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, die Sommerspiele in Moskau. Prompt folgte der Reflex: Vier Jahre später blieben unter Führung Moskaus fast 20 realsozialistische Länder den Spielen von Los Angeles fern.
Eine vergleichbare Automatik gibt der Terminplan des Weltsports derzeit allerdings nicht her. Als Nächstes richten die Amerikaner zwar gemeinsam mit Mexiko und Kanada die Fußball-Weltmeisterschaft 2026 aus, aber ausgerechnet bei diesem Turnier dürfte ein Fehlen Chinas kaum auffallen. Trotz gewaltiger Investitionen liegt das Land kaum irgendwo sonst so weit zurück wie in der repräsentativsten aller Sportarten. Individuen und Mannschaften, die sich in der Gegenwart mit Messi und Ronaldo oder Jungstars wie Mbappé und Haaland messen können, lassen sich eben nur sehr bedingt per Staatsplan formen. Und auch bis 2028 ist es noch ziemlich lang hin, wenn erneut Olympische Sommerspiele in Los Angeles stattfinden werden.
Die Sportwelt insgesamt wird, wie bislang in jeder Boykott-Debatte, nicht allzu viel zu melden haben. Wie schwach die Stimme des Sports wird, sobald die Politik das Zepter schwingt, hat in seiner aktiven Laufbahn der Fechter Thomas Bach erfahren müssen, der heute das Internationale Olympische Komitee (IOC) regiert. Bach war 1980 der deutsche Aktivensprecher, ein Anwalt der Athleten, der damit zu argumentieren versuchte, dass diese sich doch jahrelang auf die Moskauer Spiele vorbereitet hätten. "Olympische Spiele können nicht isoliert vom Weltgeschehen betrachtet werden", bekam der 26-Jährige von Bundeskanzler Helmut Schmidt zu hören, und später, als Bach nicht aufgeben wollte, gab's noch eins obendrauf: "Wenn Sie, Herr Athletensprecher, das wollen, dann fahren Sie ruhig nach Moskau." Bach hat dies, so erzählte er später, als einen "Befehlsempfang" empfunden, jedenfalls folgte das Nationale Olympische Komitee (NOK) der Dringlichkeitsempfehlung aus dem Bundestag und blieb fern.
Hat dieser Sport-Boykott nachhaltig etwas bewirkt? Die Qualität der Auswertung einer solchen Frage liegt später häufig daran, auf welcher Seite die Interpreten geopolitisch stehen. In Afghanistan zum Beispiel hat sich seit dem Moskau-Boykott zwar so einiges verändert, aber bis heute gilt das Land nicht als befriedet.
Auch um die WM in Katar läuft längst eine Debatte
Ein ähnliches Szenario wie damals muss Bach, 67, in seiner Rolle als IOC-Chef heute wieder fürchten. Seinem olympischen Wirtschaftszweig wird gerade das Wasser abgegraben, den Organisatoren der Spiele drohen Verluste, die allenfalls im Ansatz beziffert werden können. In Tokio werden vom 23. Juli bis zum 8. August, wenn überhaupt, nur noch Schmalspur-Sommerspiele stattfinden. Coronabedingt waren diese bereits um ein Jahr verlegt worden; Olympia-Touristen, das ist Beschlusslage, wird die Anreise nach Japan verwehrt bleiben. Zudem erklärte am Dienstag Nordkorea als erstes Land, nicht in Tokio starten zu wollen, deklarierte dies aber nicht als Boykott, sondern als Verzicht wegen der Pandemie. Wenn jetzt aber, da Tokio 2021 noch nicht bewältigt ist, bereits über den Winter 2022 in Peking diskutiert wird, dann steht das Geschäftsmodell globalisierter Großveranstaltungen grundsätzlich auf der Kippe.
Zumal parallel dazu längst die Debatte um Katar läuft. Dem kleinen Land wurde auf bis heute nicht endgültig geklärten Wegen die gewaltige Aufgabe zugeschanzt, im Jahr 2022, kurz vor Weihnachten, eine Fußball-WM mit 32 Mannschaften auszurichten. Gestemmt wird dies unter Ausnutzung eines Heeres von Arbeitsmigranten, die mies bezahlt werden und von denen Hunderte auf Risikobaustellen ihr Leben ließen. Auch in Bezug auf Katar wird jetzt die Frage aufgeworfen, ob ein Boykott mehr bewirken könne als beispielsweise eine Teilnahme unter Protest. Nicht nur der deutsche Fußball-Nationalspieler Joshua Kimmich, durchaus ein kritischer Geist, verweist heute darauf, dass sich dies doch all jene, die die WM im Jahr 2010 Katar zusprachen (sowie all jene, die kein Veto einlegten), schon sehr viel früher hätten überlegen können. Damals, als er gerade erst 15 war.