Boykott-Aufrufe vor der EM in der Ukraine:Kalter Krieg auf dem Rücken der Fußballfans

Politik tötet alles. In erster Linie unser Vertrauen und unsere Hoffnung. In diesem Land erwartet niemand mehr etwas von der Regierung. Was allerdings auch nicht gerade für Vertrauen sorgt, ist der Versuch, einen "Kalten Krieg" anzuzetteln und die ukrainischen Stadien den deutschen Fußballfans vorzuenthalten. Als säßen im Stadion nur Janukowitsch und sein Gefolge. Als stampften ukrainische Minister auf dem Fußballrasen herum. Als gäbe es nicht Millionen ukrainischer Fans, die dieser Regierung schon längst einen persönlichen Boykott ausgesprochen haben und denen nun ihre EM weggenommen werden soll.

Ukraine Fußball-EM Boykott

Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk/Gebiet Luhansk (Ukraine) geboren, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört zu den Akteuren der alternativen Kulturszene in Charkiw.

(Foto: Getman/Suhrkamp Verlag)

Die Fans stehen überhaupt an letzter Stelle - sowohl bei westlichen als auch bei ukrainischen Politikern. Es entsteht der Eindruck, die EURO 2012 sei keine Fußballmeisterschaft, sondern eine politische und ökonomische Leistungsschau, die der Welt zeigen soll, dass die Ukraine bereit ist, in "die Familie der freien europäischen Völker" einzutreten. Als wäre die EM eine Art Prüfung in Toleranz und Demokratie, die das junge ukrainische Staatswesen zu bestehen hat.

Was soll man dazu sagen? Zum Teufel mit der Politik! Kümmert euch um eure eigenen Wahlen. Wir mögen unseren Präsidenten auch nicht. Aber wir, im Gegensatz zu euch, boykottieren ihn schon seit drei Jahren - ohne die EM als Aufhänger. Geht es auch ohne Doppelstandards? Was für eine Reaktion erwartet Ihr eigentlich von der ukrainischen Regierung? Die Staatsmacht sitzt seit langem von der Bevölkerung isoliert in ihrem Bunker, was kümmert sie der Boykott? Wollt Ihr etwa auch eurer Nationalelf verbieten, an den EM-Spielen teilzunehmen?

Mir ist völlig klar, dass die EURO 2012 nur ein Vorwand ist. In Wirklichkeit stehe ich voll und ganz hinter einem Boykott der gegenwärtigen ukrainischen Regierung, wenn dieser Boykott nicht mein Land als Ganzes betrifft. Ich mache mir nichts vor - mir ist klar, dass wir uns selbst um die Regierung, oder vielmehr um ihren Rücktritt zu kümmern haben; und dass wir uns dabei auf den "demokratischen Westen" verlassen, ist viel zu riskant. Weil nicht der Westen diesen Präsidenten gewählt hat. Das ist der Denkfehler, den wir gemacht haben, und den nur wir korrigieren können. Nur: Was hat das alles mit Fußball zu tun?

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin, n-ost (Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung).

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