Boykott-Aufrufe vor der EM in der Ukraine:Lasst den Fußball in Ruhe!

Westliche Politiker nutzen die Fußball-EM als Bühne für die moralische Selbstdarstellung. Mit ihrem Nichterscheinen berauben sie sich nicht nur der Möglichkeit, Menschenrechtsprobleme im Land selbst anzusprechen. Sie tragen ihr bisheriges politisches Versagen auf dem Rücken von Millionen von ukrainischen Fußball-Fans aus.

Serhij Zhadan, Charkiw

Der ukrainische Lyriker Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk/Gebiet Luhansk (Ukraine) geboren, ist eine der prägenden Figuren der jungen Generation. Er promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört zu den Akteuren der alternativen Kulturszene in Charkiw. Seit 1995 publizierter er zahlreiche Gedichtbände, seit 2003 auch Prosa. Im Frühjahr 2012 erschien die von ihm herausgegebene Anthologie "Totalniy Futbol. Eine polnisch-ukrainische Fußballreise" im Suhrkamp Verlag.

Ukraine reagiert mit Unverständnis auf EM-Boykott-Berichte

Ein Demonstrant hält ein Porträitfoto von Julia Timoschenko während einer Demonstraion für die ehemalige Ministerpräsidentin in Kiew. Zahlreiche deutsche Politiker haben wegen Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine ihr Erscheinen bei der Fußball-EM abgesagt.

(Foto: dpa)

Ein Boykott von Sportveranstaltungen betrifft den Sport zuletzt. Wenn europäische Politiker heute über den Boykott der Ukraine reden, denken sie an letzter Stelle an den Fußball. Mehr noch: Auch die ukrainische Regierung, die schon seit drei Jahren mit der EURO 2012 ihr ramponiertes Image aufbessern möchte, verschwendet keinen Gedanken an die sportlichen Aspekte der Europameisterschaft.

Eine paradoxe Situation: Dank der Fußball-Europameisterschaft ins Zentrum der europäischen Aufmerksamkeit gerückt, wurde die gesamte Ukraine zu einer Geisel einheimischer und europäischer Politiker. Diese setzen auf Populismus und fragwürdige Manipulationen, um bei ihren Wählern zu punkten. Über Fußball wird dabei leider immer weniger gesprochen. Politiker, die strategische Pläne schmieden, bringen die Diskussion über die EURO 2012 ausschließlich auf die Ebene der Politik. Anschließend geht man über zu Propaganda, Spekulation, Bluff und Drohungen.

Je weniger Zeit bis zur Europameisterschaft bleibt, desto eher leuchtet uns ein, dass man uns Fans und unsere Lieblingssportart während dieses Fußballmonats wohl kaum in Ruhe lassen wird - die privaten und staatlichen Investitionen in die EM waren zu hoch, um auf ökonomische und politische Dividenden zu verzichten. Die EM bietet eine zu günstige Gelegenheit zur Selbstdarstellung, um sie nicht für eigene parteiliche Interessen zu instrumentalisieren. Ich meine damit sowohl ukrainische als auch westliche Politiker.

Ich liebe Fußball sehr. Ich kann die Spiele der ukrainischen Nationalmannschaft kaum erwarten. Ich vermute, dass unsere Nationalmannschaft sich wohl gar nicht für die EM qualifiziert hätte, wären wir nicht Gastland. Dass die Politiker - sowohl unsere als auch eure - aufhören, mit dem Thema Fußball zu spekulieren, ist alles, was ich mir in dieser Situation wünsche.

Präsident Janukowitsch, der auf der Tribüne des Stadions auftaucht, gefällt mir genauso wenig wie Kanzlerin Merkel, die auf Präsident Janukowitsch mittels der EURO 2012 Druck auszuüben versucht. Was hat eure Kanzlerin daran gehindert, ihre Position zum korrupten ukrainischen Regime schon vor ein, zwei Jahren kundzutun? Wie kann man die bisherigen Versuche der europäischen Politiker erklären, den Kontakt zum unzurechnungsfähigen Regime Janukowitschs zu verbessern?

Nennt die Dinge beim Namen und lasst den Fußball in Ruhe. Es genügt schon, dass man uns seit fünf Jahren weismachen will, dass wir nach der EM in einem anderen Land aufwachen werden. Es genügt, dass das Team des ukrainischen Präsidenten sich die EM-Vorbereitungen unter den Nagel gerissen hat - eine Jahrmarktsattraktion mit dem Titel "Wer wäscht mehr Geld?".

Kalter Krieg auf dem Rücken der Fußballfans

Politik tötet alles. In erster Linie unser Vertrauen und unsere Hoffnung. In diesem Land erwartet niemand mehr etwas von der Regierung. Was allerdings auch nicht gerade für Vertrauen sorgt, ist der Versuch, einen "Kalten Krieg" anzuzetteln und die ukrainischen Stadien den deutschen Fußballfans vorzuenthalten. Als säßen im Stadion nur Janukowitsch und sein Gefolge. Als stampften ukrainische Minister auf dem Fußballrasen herum. Als gäbe es nicht Millionen ukrainischer Fans, die dieser Regierung schon längst einen persönlichen Boykott ausgesprochen haben und denen nun ihre EM weggenommen werden soll.

Ukraine Fußball-EM Boykott

Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk/Gebiet Luhansk (Ukraine) geboren, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört zu den Akteuren der alternativen Kulturszene in Charkiw.

(Foto: Getman/Suhrkamp Verlag)

Die Fans stehen überhaupt an letzter Stelle - sowohl bei westlichen als auch bei ukrainischen Politikern. Es entsteht der Eindruck, die EURO 2012 sei keine Fußballmeisterschaft, sondern eine politische und ökonomische Leistungsschau, die der Welt zeigen soll, dass die Ukraine bereit ist, in "die Familie der freien europäischen Völker" einzutreten. Als wäre die EM eine Art Prüfung in Toleranz und Demokratie, die das junge ukrainische Staatswesen zu bestehen hat.

Was soll man dazu sagen? Zum Teufel mit der Politik! Kümmert euch um eure eigenen Wahlen. Wir mögen unseren Präsidenten auch nicht. Aber wir, im Gegensatz zu euch, boykottieren ihn schon seit drei Jahren - ohne die EM als Aufhänger. Geht es auch ohne Doppelstandards? Was für eine Reaktion erwartet Ihr eigentlich von der ukrainischen Regierung? Die Staatsmacht sitzt seit langem von der Bevölkerung isoliert in ihrem Bunker, was kümmert sie der Boykott? Wollt Ihr etwa auch eurer Nationalelf verbieten, an den EM-Spielen teilzunehmen?

Mir ist völlig klar, dass die EURO 2012 nur ein Vorwand ist. In Wirklichkeit stehe ich voll und ganz hinter einem Boykott der gegenwärtigen ukrainischen Regierung, wenn dieser Boykott nicht mein Land als Ganzes betrifft. Ich mache mir nichts vor - mir ist klar, dass wir uns selbst um die Regierung, oder vielmehr um ihren Rücktritt zu kümmern haben; und dass wir uns dabei auf den "demokratischen Westen" verlassen, ist viel zu riskant. Weil nicht der Westen diesen Präsidenten gewählt hat. Das ist der Denkfehler, den wir gemacht haben, und den nur wir korrigieren können. Nur: Was hat das alles mit Fußball zu tun?

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin, n-ost (Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung).

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