Botschaftsflüchtlinge in Prag:Tauwetter im Herbst

Am 30. September 1989 sprach Genscher seinen berühmten Satz in Prag. Erinnerungen an einen Herbst, der Europa veränderte.

Von Susanne Höll, Frankfurt

Es ist der bekannteste unvollendete Satz der deutschen Nachkriegsgeschichte: Am 30. September 1989 stand Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag, trotz aufgestellter Scheinwerfer im Schatten der Nacht schwer erkennbar. An seiner Seite Diplomaten und Bonner Politiker, unter ihm, in dem von Zelten übersäten Garten des Palais Lobkowicz, etwa 5000 erschöpfte DDR-Flüchtlinge. "Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." Die übrigen Worte gehen unter im Jubel. "Die Frauen im Garten fielen um wie Fliegen", beschrieb ein DDR-Flüchtling die Szene.

Die Balkonszene mitsamt den Zugfahrten der Flüchtlinge gen Westen war eine Klimax in jenem Herbst 1989, in dem in Mittel- und Osteuropa geweint, gefeiert, gebangt und gehofft wurde. Jener Herbst veränderte Europa, vielerorts zunächst zum Guten. Wer Augenzeugin der Umwälzungen sein durfte, in der DDR und den damaligen Warschauer-Pakt-Staaten von Polen über Ungarn, die Tschechoslowakei bis Bulgarien, Rumänien und ins stalinistisch geführte, bitterarme Albanien, war beglückt, manchmal gar euphorisch, trotz gelegentlicher Zweifel an der Zukunft dieses freien, demokratischen Europa. Die Zweifel wurden später unschöne Realität.

Der Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft hatte sich in Mitteleuropa längst vor 1989 formiert, mancherorts erfolgreicher als anderswo. Die Solidarność-Bewegung mit Lech Wałęsa in Polen war damals schon so legendär wie umstritten. In Ungarn hatte die Reformbewegung selbst die sozialistische Partei ergriffen. In Prag wie in Ostberlin aber waren Betonköpfe an der Macht, in Rumänien der zuletzt größenwahnsinnige Diktator Nicolae Ceaușescu. Die Flucht der DDR-Bürger 1989 erst in die Botschaften in Warschau, Budapest und Prag aber war ein bedeutsamer Katalysator für die Umwälzungen.

Schauplatz Budapest, einst von manchen Westlern etwas abschätzig als "fröhlichste Baracke des Kommunismus" tituliert. Dort war der zugängliche und reformfreudige Regierungschef Miklós Németh seit 1988 im Amt, flankiert vom weisen Außenminister Gyula Horn, der längst mit Kommunismus und Planwirtschaft gebrochen hatte. Die Ungarn trieb es gen Westen, zum Entsetzen der übrigen osteuropäischen Regime.

Ärzte befürchteten Seuchen - die Umstände in der Botschaft waren kaum erträglich

Am 25. August 1989, als die bundesdeutsche Botschaft in Ungarn überfüllt war, Ausreisewillige sich auf Zeltplätzen am Balaton und in Notunterkünften in Budapest versammelten, flogen Németh und Horn nach Bonn, trafen unter größter Geheimhaltung im Schloss Gymnich den damaligen Kanzler Helmut Kohl und Genscher. Németh erzählte, was er zu tun gedenke. Ungarn werde alle seine Grenzen für DDR-Flüchtlinge öffnen. "Dann sah ich Tränen in den Augen des Bundeskanzlers", erinnerte sich Németh 1990 im Gespräch mit der Augenzeugin des Wende-Herbstes. Am 10. September öffneten sich Ungarns Grenzbäume zu Österreich. Eine folgenreiche Entscheidung, nicht nur für die Flüchtlinge, sondern für ganz Mitteleuropa.

Hans-Dietrich Genschers Zitat

"Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ... - möglich geworden ist", sagte Genscher noch. Aber das war im Jubel der Menschenmenge im Garten unter dem Balkon der Deutschen Botschaft nicht mehr zu verstehen.

Die ČSSR schloss daraufhin die Grenze, der Weg in das liberale Ungarn war DDR-Bürgern versperrt. Also kamen immer mehr Flüchtlinge in die Prager Botschaft. Die Umstände dort waren erst schwierig, später kaum erträglich. Im Gebäude, im Garten campierten bald Tausende. Stasi-Mitarbeiter versuchten, Menschen zur Rückkehr zu bewegen. Wenn sie, wie meist, erfolglos blieben, provozierten sie Randale und Schlägereien. Die aufgestellten Mobiltoiletten reichten längst nicht mehr aus, Ärzte fürchteten Epidemien.

Im Getümmel des Botschaftseingangs lag Ende September eine wimmernde, hochschwangere Frau, bedeckt mit einer Decke. Ein schmaler Mann legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: "Es wird alles gut." Der schmale Mann war der damalige Botschafter Hermann Huber, der sich mit seiner Frau und den Mitarbeitern bis an die Grenze des Menschenmöglichen um die Schutzsuchenden bemühte.

Vor den Toren der Botschaft herrschte Chaos. Flüchtlinge strömten zum Palais, Freunde verabschiedeten sie unter Tränen. Eine Frau mit blonden Haaren schüttelte die Schultern einer ausreisewilligen Freundin und rief unter Tränen: "Ihr könnt uns doch nicht in der DDR allein lassen." Die Augenzeugin auf dem Vorplatz fragte erst sich selbst und später die erfahrenen Kollegen in London und Bonn, ob die DDR ausblute, gar verende. Nein, sagten die erfahrenen Kollegen und rieten zu einer Pause und viel Schlaf. Gut zwei Monate später war die Berliner Mauer gefallen.

Die Prager Bürger halfen den Flüchtlingen, gaben ihnen Nahrung und bekamen dafür manchmal die Schlüssel für einen Trabi in die Hand gesteckt, der künftig nicht mehr gebraucht wurde. Und die Opposition in der Tschechoslowakei, bis dahin hauptsächlich Studenten, Intellektuelle und Künstler, darunter der seit Langem verfolgte Schriftsteller Václav Havel, nahm Witterung auf. Ihnen steckten noch die traumatischen Erfahrungen des August 1968 in den Knochen, als UdSSR-geführte Truppen die Reformbewegung in der ČSSR blutig niedergeschlagen hatten.

Manchmal präsentiert sich Zeitgeschichte als Märchen

Als die DDR-Spitze um Erich Honecker im Oktober 1989 gestürzt und die Mauer am 9. November gefallen war, fassten die Widerständler an der Moldau Mut. Leute wie der Ex-Journalist und zwischenzeitliche Betriebsheizer Jiří Dienstbier, der feinsinnige und schwarzhumorige Psychologe Michael Žantovský sowie der Schriftsteller und Fotograf Josef Hájek, allesamt Dissidenten und Mitbegründer des oppositionellen Bürgerforums, alles Männer, mit denen man als westliche Journalistin früher durch Prager Straßen gelaufen war, um jenseits der Mikrofone der Geheimdienste vertrauliche Gespräche zu führen.

Der Widerstand wuchs im ganzen Land. Im bitterkalten November und Dezember versammelten sich Menschen in Prag und Bratislava zu Großdemonstrationen, klirrten mit Schlüsseln und läuteten so die "samtene Revolution" ein. Havel wurde Präsident, Dienstbier Minister, Žantovský Diplomat und Hájek für kurze Zeit Bürgermeister Prags. Wie in der DDR blieben die Sowjettruppen in den Kasernen. Manchmal präsentiert sich Zeitgeschichte als Märchen.

Oder als Albtraum, wie in Rumänien. Als Ost- und Westdeutsche sich auf ihr erstes gemeinsames Weihnachten freuten, ließen die Schergen Ceaușescus das Land in einem Blutbad versinken. Mit brutaler Gewalt gingen sie gegen aufständische Massen vor, die nicht länger in erbärmlicher Armut leben, sich kujonieren lassen und von Hühnerfüßen ernähren wollten. In den Straßen lagen Leichen, die Securitate feuerte aus Hubschraubern auf das eigene Volk. Die Armee rückte vom Staatschef ab. Ceaușescu und seine Frau Elena wurden am ersten Weihnachtstag 1989 vor laufenden Kameras standrechtlich erschossen.

In Rumänien hatte der Umsturz mit der Verhaftung des evangelischen Pfarrers László Tőkés begonnen, eines Dissidenten und Angehörigen der ungarisch-stämmigen Minderheit. Ceaușescu hatte die Minoritäten systematisch unterdrückt, nach seinem Sturz besserte sich die Lage. Aber die 1989 so freudig begrüßten Umwälzungen waren auch der Beginn von manchmal friedfertigen, anderswo kriegerischen nationalistischen Ausbrüchen. Die Tschechoslowakei spaltete sich 1992 in Tschechien und die Slowakei auf, in Jugoslawien führte Slobodan Milošević Krieg gegen die nach Unabhängigkeit strebenden Teilrepubliken. Auch in der Sowjetunion war Blut geflossen bei dem Versuch, die baltischen Staaten in der UdSSR zu halten.

Und ausgerechnet jene mitteleuropäischen Staaten, in denen die demokratische Umwälzung 1989 ihren friedlichen Ausgang nahm, in Ungarn, in Polen, auch in Prag, werden wieder von autoritären Kräften regiert, die Probleme mit Freiheit und einem geeinten Europa haben. Wenn am Samstag in der deutschen Botschaft in Prag der 30. Jahrestag der Ausreise der DDR-Flüchtlinge gefeiert wird, sollte man sich vielleicht auch daran erinnern.

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