Boßeln:Norddeutsche Gelbwesten

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Ostfrieslands Nationalsport plagt eine Sicherheitsdebatte.

Von Thomas Hahn

Boßler sind ehrlich, deshalb kann Erwin Niehuisen, der Ostfriesland-Präsident seines Sports, nicht verhehlen, dass er mit der Gesamtsituation unzufrieden ist. Klar, die Punktspielzeit für die 25 000 Mitglieder seines Verbandes war gut, der Wettkampfbetrieb ist rege. Am Sonntag gab es reibungslose Titelkämpfe beim Ostfriesland-Pokal auf den Straßen um Blomberg. Trotzdem hat Niehuisen etwas gestört an dieser Saison. Ein Unfall mit Gelegenheitsboßlern entfachte eine Debatte, in der es aussah, als sei das Spiel, bei dem die Teilnehmer eine Distanz mit möglichst wenigen Würfen erreichen müssen, grundsätzlich gefährlich. "Man schüttet uns in einen Topf", sagt Niehuisen, "damit tut man uns keinen Gefallen."

Am Boßeln kann man sehen, wie aus Heimatkultur Folklore wird und dabei Vorurteile aufkommen, die den Stolz einer Region treffen. Das Spiel, im 19. Jahrhundert aus der Feld-Variante Klootschießen hervorgegangen, ist in Ostfriesland Nationalsport. Es gibt ein Ligensystem, die Vereine in den sechs Kreisverbänden sind zur Jugendarbeit verpflichtet. Während der Hauptsaison von September bis März berichten die Lokalzeitungen seitenweise. Wie der Oldenburger Verband unterstehen auch Ostfrieslands Boßler dem Friesischen Klootschießerverband, der deutsche Meisterschaften sowie die Teilnahme an Europameisterschaften organisiert. Kurz: Boßeln ist Leistungssport.

Aber Boßeln ist auch ein Spaßspiel für Touristen und Feiergesellschaften. Vor allem im Winter zur Grünkohlzeit sind in Norddeutschland sogenannte Kohltouren populär, Wanderungen mit Alkohol im Bollerwagen. Freies Boßeln gehört oft dazu, natürlich mit Zielwasser. Beides, das Leistungsboßeln und das Spaßboßeln, findet auf offener Straße statt, und dieser Umstand machte Anfang Februar Schlagzeilen, als ein Autofahrer in Breddenberg, Emsland, bei Dunkelheit eine Boßelgruppe übersah und acht Personen verletzte, zwei davon lebensgefährlich.

Lokalpolitiker stritten über die Ursache. Es gab gesonderte Hinweise, dass Warnwesten zum Vergnügen gehörten. Die Polizei in Westerstede, Landkreis Ammerland, nahm das Unglück zum Anlass, 2000 solcher Westen umsonst zu verteilen. Und natürlich erreichten die Zweifel auch die Heimatsportler in den Vereinen.

"Aber mit uns hat das nichts zu tun", sagt Erwin Niehuisen und verweist auf das offizielle Regelwerk für Wettkämpfe. Diese müssen beim Landratsamt angemeldet werden. Jeder Verein hat seine genehmigte Heimstraße, auf der er an den Spieltagen bis zu dreieinhalb Kilometer in Beschlag nehmen darf. Warnschilder weisen auf die Werfer hin, begleitet werden sie von einem sogenannten Bahnweiser in Signalweste, der den Autoverkehr im Blick hat. Bei Dunkelheit, Glätte oder Nebel wird nicht geboßelt. Alkohol? "Im Wettkampf verboten", sagt Niehuisen.

Die Sicherheit der Spaßboßler bleibt ein relevantes Thema. Kohltouren gehören nun mal auch zum Norden. Lösungen? Die kostenlose Warnwestenausgabe gilt in Westerstede als Erfolg. "Super Ansatz", sagt ein örtlicher Polizeisprecher. Und Verbandspräsident Niehuisen leistet seinen Beitrag zu einem unfallfreien Boßel-Tourismus durch mahnendes Schweigen. Er sagt: "Wir distanzieren uns komplett davon."

© SZ vom 01.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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