Süddeutsche Zeitung

Äußerung über ältere Corona-Patienten:"Boris Palmer schadet unserer Partei"

  • Einst galt Tübingens OB als nächster baden-württembergischer Ministerpräsident.
  • Doch Palmer hat das Feld grüner Grundüberzeugungen immer öfter bewusst verlassen - zuletzt mit einem Statement über ältere Corona-Patienten.
  • Jetzt fordern Parteikollegen seinen Ausschluss. Ganz einfach allerdings wäre ein solches Manöver nicht.

Von Constanze von Bullion und Claudia Henzler, Berlin/Stuttgart

Die Tonlage ist gereizt, die Geduld aufgebraucht, am Montag hat die Bundesspitze der Grünen dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer das Vertrauen aufgekündigt. Die Partei werde Palmer bei einer erneuten Kandidatur in Tübingen und bei weiteren politischen Tätigkeiten nicht mehr unterstützen, weder finanziell noch logistisch, sagte die Grünenchefin Annalena Baerbock am Montag nach einer Videokonferenz des Parteivorstands in Berlin. Weitere interne Sanktionen würden geprüft. Einen Parteiausschluss halten viele Grüne für wünschenswert, aber auch für schwierig.

Die baden-württembergischen Landesvorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand schlossen sich am Montagnachmittag Baerbocks Ankündigung an. "Boris Palmer schadet unserer Partei", erklärten sie. Das weitere Vorgehen wolle man eng mit der Parteispitze und dem Tübinger Kreisvorstand abstimmen. Viele Grüne, insbesondere aus Berlin, drängen darauf, Palmer aus der Partei auszuschließen.

Palmer hatte sich in der Debatte über Corona-Lockerungen zu Wort gemeldet. "Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären", sagte Palmer am Dienstag im Sat-1-Frühstücksfernsehen.

In der eigenen Partei, bei Patientenverbänden und in der CDU erntete der Politiker damit wütende Reaktionen. Wer das Leben alter oder kranker Menschen als weniger schützenswert darstelle, handle sozialdarwinistisch, hieß es bei Baden-Württembergs Grünen.

Auch Parteichef Robert Habeck platzt der Kragen

Palmer zeigte sich überrascht. "Niemals würde ich älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Falls er sich "missverständlich oder forsch ausgedrückt" haben sollte, tue es ihm leid. Er habe das Dilemma der Politik, die in der Pandemie Entscheidungen treffen müsse, zugespitzt, um zu zeigen, wie schwierig diese Entscheidungen seien.

Im Gespräch mit der SZ versicherte Palmer, er sei falsch verstanden worden: "Ich sage nicht, wir sollen die Alten sterben lassen." Das Gegenteil sei der Fall: "Wir müssen die Alten mehr schützen." Palmer hatte sich in dem Interview auch dafür ausgesprochen, eine gesellschaftlich separate "Sphäre" für vulnerable Gruppen zu schaffen.

Nun ist es nicht das erste Mal, dass Palmer durch Zuspitzungen auffällt. Der 47-Jährige, der einst als grünes Nachwuchstalent galt und von manchen schon als nächster baden-württembergischer Ministerpräsident gesehen wurde, hat das Feld grüner Grundüberzeugungen immer öfter bewusst verlassen. Mal ärgerte er sich in der Zeit hoher Flüchtlingszahlen über einen offenbar regelwidrig fahrenden Radfahrer - und schloss aus dessen Hautfarbe, es handle sich um einen Asylbewerber. Dann missfiel Palmer eine Werbung der Deutschen Bahn, bei der überwiegend nicht-weiße Fahrgäste, meist Prominente, zu sehen waren: "Welche Gesellschaft soll das abbilden?" Inzwischen halten viele in seiner Partei ihn für untragbar.

"Seine wiederholten Eskapaden und parteischädigenden Äußerungen in den Themen Migration und Integration, seine Sicht auf Geflüchtete, oder die Verharmlosung von Rassismus, zeigen deutlich, dass die Partei Bündnis 90/Die Grünen längst nicht mehr seine politische Heimat ist", heißt es in einem Brief, in dem rund 100 überwiegend in Berlin lebende Grüne Palmers Parteiausschluss fordern. Auch dessen jüngste Äußerung über Alte in der Coronakrise sei eine "Propaganda gegen Schwächere". Am Sonntag platzte auch Parteichef Robert Habeck der Kragen. "Der Satz von Boris war falsch, herzlos", sagte er in der Sendung "Anne Will" über Palmer. "Er spricht damit weder für die Partei noch für mich." Man werde sich mit der Frage eines Parteiausschlusses "beschäftigen".

"Das kann so nicht weitergehen"

Ganz einfach allerdings wäre ein solches Manöver nicht. Die grüne Bundessatzung erlaubt es zwar allen Organen der Partei, ein Ausschlussverfahren zu beantragen. Entscheiden aber könnte nur das Schiedsgericht des Kreisverbands Tübingen. Auch dort schwindet die Unterstützung für Palmer. Eine Mehrheit der grünen Verantwortlichen aber tendiert dort offenbar eher dazu, die Sache politisch zu klären und nicht durch einen Parteiausschluss. Einen Beschluss hat der Kreisverband dazu noch nicht gefasst.

Tübingens Fraktionsvorsitzender im Gemeinderat, Christoph Joachim, hatte als erster öffentlich vorgeschlagen, Palmer 2022 nicht mehr für den Posten des Oberbürgermeisters zu nominieren. Er habe sich bisher immer wieder schützend vor die Grünen in Tübingen stellen müssen, wenn der Oberbürgermeister rhetorisch entgleist sei, sagte Joachim. Palmer verärgere ältere Bürger systematisch, was den Erfolg grüner Projekte gefährde: "Das kann so nicht weitergehen."

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SZ vom 05.05.2020
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