Großbritannien:Nach Boris das Gemetzel

Großbritannien: Zwei Kandidatinnen mit guten Aussichten auf die Spitze der Tories - und damit auf einen Umzug nach 10 Downing Street: Außenministerin Liz Truss (li.) und die frühere Verteidigungsministerin Penny Mordaunt.

Zwei Kandidatinnen mit guten Aussichten auf die Spitze der Tories - und damit auf einen Umzug nach 10 Downing Street: Außenministerin Liz Truss (li.) und die frühere Verteidigungsministerin Penny Mordaunt.

(Foto: Reuters/Imago)

Elf Tories konkurrieren um die Nachfolge von Boris Johnson an der Parteispitze, selbst eine Kandidatin erwartet ein "Blutbad". Bis 5. September soll der Nachfolger gefunden sein.

Von Michael Neudecker, London

Man kann nicht sagen, dass die britische Kulturministerin Nadine Dorries bislang durch besonders kluge Bemerkungen aufgefallen wäre, ganz im Gegenteil. Die frühere Kandidatin der britischen "Dschungelcamp"-Variante erstaunte in ihrer nun zehnmonatigen Amtszeit immer wieder mit teils haarsträubenden Einordnungen und Feststellungen. Dabei hielt sie bis zuletzt auf eine Weise zu Boris Johnson, die ihr den Beinamen "Boris-Cheerleader" eingebracht hat. Kurz nach Johnsons Rücktrittsrede aber sagte sie der Times etwas, das ziemlich genau das traf, was in ihrer Partei nun passiert: "Die Höllenhunde wurden losgelassen. Die Leute werden sich jetzt in den Medien gegenseitig zerreißen, es wird ein Blutbad werden."

Die Tories hätten nun die Chance, sich von Johnsons so aufwühlendem Regierungsstil zu distanzieren, aber zu dessen Erbe gehört eben auch, dass er nicht nur im Land Spaltungen hinterlassen hat, sondern auch in der eigenen Partei. Dass die Suche nach einem Nachfolger ohne Reibungen ablaufen wird, hat niemand erwartet, dafür geht es um zu viel. Aber ein "Blutbad"?

Die Sunday Times berichtete, mindestens zwei der zahlreichen Bewerber hätten Dossiers an die Labour-Partei geleakt, in denen kompromittierende Infos über Konkurrenten enthalten sind. Es soll dabei um zweifelhafte Finanzkonstruktionen gehen, aber mitunter auch um die Teilnahme an Orgien, Vorliebe zu Prostituierten und Drogen. Besonders Rishi Sunak steht im Fokus maximaler Gehässigkeit. Ein Boris Johnson nahestehender sogenannter Insider ließ sich am Montag in den Zeitungen mit den Worten zitieren, Sunak sei ein "verräterischer Dreckskerl". Und nicht zuletzt Nadine Dorries nutzt jede Gelegenheit, Sunak zu diskreditieren, vor allem auf Twitter.

Wer unter diesen Umständen neuer Chef der Tories wird, soll am 5. September nach der Parlamentspause feststehen, so teilte es am Montagabend Graham Brady mit, der Vorsitzende des zuständigen 1922-Komitees der Tory-Fraktion. Das Komitee legte auch das Wahlverfahren fest: Mindestens 20 Unterstützer seiner Kandidatur muss jeder Bewerber mitbringen, um aussichtslose Kandidaturen zu vermeiden. Die Nominierungen müssen bis zu diesem Dienstag vorliegen, und bereits am Mittwoch soll der erste Wahlgang stattfinden, in dem Bewerber mindestens 30 Stimmen erreichen müssen. Tags darauf der zweite und ein dritter voraussichtlich am kommenden Montag. Brady sagte der BBC zufolge, möglicherweise sei dann schon der Punkt erreicht, an dem nur noch zwei Kandidaten übrig sein würden. Zwischen diesen entscheiden dann die Parteimitglieder.

Der bisherige Favorit der Umfragen will lieber nicht antreten

Bis Montagnachmittag haben sich elf Tories offiziell um die Nachfolge Johnsons als Parteichef beworben. In den Umfragen unter den etwa 100 000 Parteimitgliedern liegen derzeit Außenministerin Liz Truss und der ehemalige Finanzminister Sunak vorne. Der bisherige Führende in den Umfragen, Verteidigungsminister Ben Wallace, beschloss "nach gründlichen Überlegungen", lieber als Verteidigungsminister weitermachen zu wollen und also nicht anzutreten.

Gute Chancen werden auch der Amtsvorgängerin von Wallace zugesprochen, Penny Mordaunt: Die 49-Jährige hat ihre Bewerbung unter das Motto gestellt, "leadership" künftig mehr auf das "ship" zu fokussieren als auf den "leader". Mordaunt wird dem eher links orientierten Tory-Flügel zugerechnet. Ihr in sozialen Medien veröffentlichtes Bewerbungsvideo brachte ihr allerdings mehr Kritik und Häme ein als Applaus: Im Video kam unter anderem Oscar Pistorius vor, der wegen Mordes an seiner Lebensgefährtin verurteilte beinamputierte südafrikanische Sprinter, außerdem der britische Paralympics-Sportler Jonnie Peacock. Der aber war offenbar nicht um Erlaubnis gefragt worden, er forderte Mordaunt öffentlich auf, ihn "umgehend" aus dem Video zu entfernen, weil er die Konservativen nicht unterstützen will.

Praktisch alle Kandidaten versuchen sich als eine Art Gegen-Johnson zu positionieren: seriös, glaubwürdig und ernsthaft. Dabei ist die Frage, wie Johnson selbst nun weitermacht, noch nicht ganz geklärt. Bei seiner Rücktrittsrede hatte Johnson angekündigt, so lange weitermachen zu wollen, bis ein neuer Parteichef und Premierminister gefunden sei, möglicherweise bis Herbst also. Die Opposition kündigte umgehend an, in diesem Fall ein Misstrauensvotum im Parlament einbringen zu wollen.

Außerdem verlangte Labour eine Untersuchung der Sache mit den Lebedevs: Johnson gab, von den britischen Medien weitgehend unbeachtet, in seiner turnusmäßigen Befragung vor dem Untersuchungsausschuss zur Arbeit des Premierministers am Mittwoch zu, er habe Alexander Lebedev in Italien getroffen, als er noch Außenminister war. Das wäre nicht nur ein potenzieller Bruch der Sicherheitsregeln, sondern auch ein politisch heikler Vorgang: Lebedev war einst hochrangiger KGB-Offizier und Spion, und Johnson traf ihn im April 2018, zwei Tage nach einem Nato-Gipfel, in dem es vor allem um Russland ging.

Das Treffen fand demnach auf einer Party von Lebedevs Sohn Evgeni statt, der als Freund Johnsons gilt. Als Johnson dann Premierminister war, dauerte es nur ein paar Monate, ehe Evgeni Lebedev ins Oberhaus berufen wurde. Auf Lebenszeit, wie in solchen Fällen üblich.

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