Großbritannien:Fünf Rücktritte und ein Tiefschlag

Großbritannien: Aus der Krise ins Krisengebiet: Boris Johnson unterwegs nach Kiew, wo er diese Woche den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij traf.

Aus der Krise ins Krisengebiet: Boris Johnson unterwegs nach Kiew, wo er diese Woche den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij traf.

(Foto: Getty Images)

Der britische Premier Johnson wird nach falschen Anschuldigungen gegen Oppositionsführer Starmer heftig kritisiert. Die Zahl der Tory-Abgeordneten, die ihm das Misstrauen aussprechen, steigt.

Von Michael Neudecker, London

In Southend West im Südosten von England gewannen die Konservativen am Donnerstag eine Wahl, aber zurzeit ist nicht einmal das für Boris Johnson eine gute Nachricht. Southend West ist der Wahlbezirk, in dem eine Nachbesetzung nötig wurde, weil der dortige konservative Abgeordnete David Amess im vergangenen Jahr erstochen wurde, der Fall erschütterte das Land. Die meisten anderen Parteien beschlossen danach, zur Nachwahl nicht anzutreten. Anna Firth, die Kandidatin der Konservativen, bekam nun 12 792 Stimmen - die Wahlbeteiligung lag bei 24 Prozent. Das ist einer der schlechtesten Werte in Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg. 1084 Wahlzettel waren ungültig, viele davon, weil sie mit Kommentaren versehen waren. Auf einem stand offenbar "Get Boris out", werft Boris raus, auf einem anderen "Boris, do a Brexit - get out". Boris, mach den Brexit, geh.

Im Leben des britischen Premierministers treten die schlechten Nachrichten derzeit selten alleine auf, deshalb fielen die verheerenden Zahlen und die Botschaften auf den Stimmzetteln am Freitag beinahe hinten runter. Es passierte ja noch mehr: Fünf Mitarbeiter von Johnsons Stab in Downing Street traten zurück. "Meltdown in Downing Street" titelte die Daily Mail, mit einer täglichen gedruckten Auflage von fast einer Million die größte Zeitung im Königreich: Downing Street bricht zusammen. Dazu eine Nahaufnahme von Johnson und der Zusatz: "... möge der Letzte bitte das Licht ausmachen".

Johnson bezeichnete Mirza als eine der fünf einflussreichsten Frauen in seinem Leben

Die Erste, die am Donnerstagabend zurücktrat, war Munira Mirza, Johnsons wichtigste Politikberaterin. Es folgten Jack Doyle, der Medienchef, Dan Rosenfield, der Amtschef in No.10, Martin Reynolds, Johnsons Büroleiter, und am Freitag Elena Narozanski, die unter Mirza in der Politik-Abteilung arbeitete. Rosenfield ist bei einigen Tories nicht besonders beliebt, Reynolds ist der Absender jener berühmt gewordenen Einladungsmail zu einer Party in Downing Street, zu beiden gab es schon länger Spekulationen über einen Rücktritt. Aber besonders Mirzas Abschied trifft Johnson.

Großbritannien: Sie löste die Rücktrittswelle aus: Munira Mirza, enge Beraterin Boris Johnsons.

Sie löste die Rücktrittswelle aus: Munira Mirza, enge Beraterin Boris Johnsons.

(Foto: Yui Mok/dpa)

Vor eineinhalb Jahren bezeichnete Johnson Mirza als eine der fünf einflussreichsten Frauen in seinem Leben, sie war seit 14 Jahren an seiner Seite und beriet ihn schon zu seiner Zeit als Bürgermeister von London. Auch ihr Mann Dougie Smith gehört zu Johnsons Beratern, er gilt als wichtige Figur im Hintergrund. Ob er bleibt, war am Freitag ungewiss. Die 44-jährige Mirza soll schon länger unzufrieden damit gewesen sein, wie Downing Street geführt wird. Nun begründete sie ihren Schritt in einem Schreiben mit Johnsons Jimmy-Savile-Kommentaren gegenüber Oppositionsführer Keir Starmer. "Es gab keine faire oder nachvollziehbare Grundlage für diese Behauptung", schrieb Mirza.

Johnson hatte Starmer am Montag im Unterhaus mit den Worten angegriffen, Starmer habe in seiner Zeit als Generalstaatsanwalt mehr Zeit damit verbracht, Journalisten anzuklagen statt Jimmy Savile. Der Fall Savile ist einer der größten Skandale der jüngeren britischen Justizgeschichte: Savile, einst BBC-Moderator, DJ und landesweite Berühmtheit, wurde zu Lebzeiten immer wieder von Anschuldigungen begleitet, er habe Kinder und Frauen sexuell angegriffen. Nach seinem Tod 2011 kamen umfassende Untersuchungen zu dem Schluss, dass er über Jahrzehnte hinweg mindestens 60, wahrscheinlich aber eher mehrere Hundert Frauen und Kinder missbraucht hatte.

Johnsons Angriff kritisierten selbst viele Tory-Abgeordnete

2009 wurde Savile vernommen, der damals zuständige Staatsanwalt befand allerdings, die Beweise reichten für eine Anklage nicht aus. Starmer war zu der Zeit Chef der Behörde, jedoch drang der Fall wohl nie bis zu ihm vor - die Justizbehörde hatte es zu der Zeit mit etwa 900 000 Fällen pro Jahr zu tun, wie ein früherer Staatsanwalt der BBC erklärte. Starmer entschuldigte sich dennoch, als 2012 klar wurde, wie viele schlimme Verbrechen Savile begangen hatte. Seitdem verbreiten rechte Facebook-Gruppen immer wieder die falsche These, Starmer habe etwas mit der Entscheidung zu tun gehabt, Savile nicht anzuklagen.

Großbritannien: Inzwischen Oppositionsführer: Keir Starmer, ehemals Generalstaatsanwalt.

Inzwischen Oppositionsführer: Keir Starmer, ehemals Generalstaatsanwalt.

(Foto: Jessica Taylor/AFP)

Johnsons Angriff auf Starmer kritisierten nun selbst viele Tory-Abgeordnete. Johnson aber entschuldigte sich nicht, im Gegenteil: Er wiederholte seine Behauptung am Mittwoch noch einmal, in milderen Worten. Erst am Donnerstag wies er darauf hin, er habe lediglich einen "generellen Punkt" machen wollen, er respektiere Starmers Arbeit als Generalstaatsanwalt natürlich. Danach verfasste Mirza ihr Schreiben, in dem sie auch zum Ausdruck brachte, wie "traurig" sie es finde, dass er sich nicht wie von ihr geraten entschuldigt habe.

Rishi Sunak, Finanzminister und einer der Favoriten auf eine mögliche Johnson-Nachfolge, distanzierte sich am Donnerstag überraschend von Johnsons Savile-Tiefschlag, wenn auch vorsichtig. Er finde es gut, sagte Sunak, dass der Premierminister seinen Punkt klargestellt habe, "aber um ehrlich zu sein, ich hätte so etwas nicht gesagt".

Die Zahl der Tory-Abgeordneten, die öffentlich Johnson das Misstrauen ausgesprochen haben, ist diese Woche weiter gestiegen, sie liegt momentan bei acht. Aber es ist wohl wie immer, wenn es um Zahlen geht: Die Dunkelziffer ist das eigentliche Problem.

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