Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:0,35 Prozent der britischen Wähler bestimmen den neuen Premier

Mit der Urabstimmung der Konservativen in Großbritannien wird auch über den Regierungschef entschieden. Von einem winzigen Bruchteil der Bevölkerung.

Von Markus C. Schulte von Drach

In Boris Johnson haben die Mitglieder der Konservativen in Großbritannien in einer Briefwahl einen neuen Parteichef gewählt, der - so ist es üblich - auch Premier Großbritanniens wird. Denn die Partei, die im Parlament die Mehrheit hat und regiert, überlässt ihrem Parteiführer auch die Aufgabe des Regierungschefs.

Die Konservativen haben insgesamt etwa 180 000 Mitglieder, wie unlängst der Vorsitzende der Partei, Brandon Lewis, meldete. (Parteiführung und Vorsitz sind bei den Tories unterschiedliche Positionen.) Etwa 160 000 waren den britischen Medien zufolge aufgerufen, sich an der Urabstimmung über den Parteiführer zu beteiligen.

Mit dieser Zahl der Parteimitglieder lag die Macht der Entscheidung somit in den Händen von 0,35 Prozent der insgesamt 45 775 800 wahlberechtigen Wählerinnen und Wählern in Großbtiannien.

Dass die Tories damit dem Willen der Mehrheit der Briten folgen, ist unwahrscheinlich. Denn die Konservativen haben bei den Parlamentswahlen 2017 zwar mehr als 42 Prozent der Stimmen erhalten und mit Unterstützung der nordirischen DUP eine Minderheitsregierung gebildet. Schon Theresa May als Parteiführerin der Tories aber war für die Mehrheit der Bevölkerung nicht gerade die beliebteste Regierungschefin.

In Umfragen von YouGov fanden regelmäßig nur um 40 Prozent, dass May als Premier einen guten Job macht. In jüngerer Zeit waren es nur noch etwa 30 Prozent, während fast 70 Prozent fanden, sie mache ihre Arbeit schlecht.

Die Umfragewerte für Boris Johnson, Ex-Bürgermeister von London, Ex-Außenminister und Brexit-Hardliner, waren unter den Briten nicht viel besser. So meinten kaum 30 Prozent, dass er eine gute Wahl als Premier wäre. 50 Prozent hielten ihn für eine schlechte Wahl.

Unter den Tories ist die Beliebtheit von Johnson dagegen gestiegen. 2018 hielt es noch fast die Hälfte der befragten Parteimitglieder für keine gute Idee, ihn zum Parteichef und Premier zu machen. Seit Mitte 2019 aber meinen drei Viertel, er gäbe einen guten Premier ab.

Viele Wählerinnen und Wähler hatten sich mit Theresa May als Premierministerin nicht nur abgefunden, sondern wählten 2017 die Konservativen - sogar etwas mehr als bei den Parlamentswahlen 2015, als David Cameron Parteichef war. Nachdem Cameron wegen des Ausgangs des Brexit-Referendums 2016 zurückgetreten war, hatten die Konservativen im Unterhaus May als eine von zwei Kandidatinnen für seine Nachfolge gewählt. Eine geplante Urwahl der Parteimitglieder blieb aus, als die einzige verbliebene Gegenkandidatin Mays, Andrea Leadsom, ihre Kandidatur zurückzog.

Theresa May hatte also noch nicht einmal das erklärte Votum der Parteimitglieder, als die Regierungschefin wurde. Immerhin aber wurde sie 2017 von einem Großteil der Wählerinnen und Wähler bestätigt. Dass Parteien wie nun die Tories in Großbritannien über eine Urabstimmung der Mitglieder die Parteiführung wählt, lässt sich natürlich auch als demokratischer Fortschritt interpretieren. Noch demokratischer wäre es aber, wenn Boris Johnson sich relativ bald als Spitzenkandidat der Konservativen den britischen Wählerinnen und Wählern bei Parlamentswahlen stellen würde.

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