Dauerkrise:Der Lügenpremier

Dauerkrise: "Warum sollten wir irgendetwas von dem glauben, was Sie sagen?": Boris Johnson, hier im Unterhaus, hat das Vertrauen der Mehrheit der Briten verloren.

"Warum sollten wir irgendetwas von dem glauben, was Sie sagen?": Boris Johnson, hier im Unterhaus, hat das Vertrauen der Mehrheit der Briten verloren.

(Foto: Jessica Taylor /AFP)

Boris Johnson hat der Feiermarathon für die Queen eine Atempause verschafft. Das dürfte aber auch die einzige Party sein, die ihm politisch nützt.

Von Michael Neudecker, London

Eine Verbindung zwischen der viertägigen Party für die Queen und den vielen Lockdown-Partys des Premierministers ist einfach zu naheliegend, um sie zu ignorieren. Diese vier Tage seien doch auch nur ein einziges großes "work event" für das ganze Land, das war der Running Gag unter britischen Karikaturisten und Comedians in den vergangenen Tagen. So hat Boris Johnson die vielen Partys zu Lockdown-Zeiten in Downing Street immer wieder entschuldigt: Sie seien einfach Arbeitsveranstaltungen gewesen. Humor hilft oft dann am meisten, wenn die Lage hoffnungslos zu sein scheint.

Boris Johnson wird, wie es aussieht, am Montag seine 151. volle Woche als Premierminister beginnen, seitdem er das Amt am 24. Juli 2019 von Theresa May übernommen hat. Ob er sie auch beenden wird, ist schwer zu sagen. Allerdings wäre es nicht überraschend, wenn Boris Johnson noch Wochen, wenn nicht Jahre Premier bleiben würde - weil er sich schlicht weigert zurückzutreten. Der Teil der Bevölkerung, der ihm kritisch gegenübersteht, verzweifelt daran regelrecht, und wenn man den Umfragen glauben darf, ist das die Mehrheit. Je nach Institut liegt der Wert der Briten, die Johnsons Rücktritt wollen, derzeit bei 58, 59 oder 60 Prozent.

Bisher fordern 30 konservative Abgeordnete seinen Rücktritt. Es dürften mehr werden

Die Briten vertrauen ihrem Premierminister nicht mehr, er hat so oft und nachweislich Unwahrheiten verbreitet, dass es inzwischen normal ist, ihm genau das ungeniert vorzuwerfen. Vor ein paar Tagen war Johnson Interviewgast beim Internet-Forum "Mumsnet". Die Gründerin des Netzwerks fragte zum Auftakt in einem Tonfall, als sei dies eine übliche Einstiegsfrage an einen Premierminister: "Warum sollten wir irgendetwas von dem glauben, was Sie sagen, wenn es doch bewiesen ist, dass Sie ein gewohnheitsmäßiger Lügner sind?" Johnson antwortete, er sei nicht einverstanden mit dieser Annahme, und man müsse sich doch bloß ansehen, was er alles getan habe, seitdem er Premier sei. Das Problem ist nur: Genau das machen die Wähler.

Insbesondere die immens steigenden Lebenshaltungskosten und der Umgang der Regierung damit führen zu Unzufriedenheit. Die Maßnahmen beschränkten sich zunächst im Wesentlichen darauf, Steuern zu erhöhen. Erst vor ein paar Tagen gab Finanzminister Rishi Sunak bekannt, nun doch eine Art "Risiko-Abgabe" von den Energiekonzernen zu verlangen, wie es die Opposition seit längerer Zeit gefordert hatte - auf Tiefgreifenderes warten die Briten bislang vergeblich. Aber Boris Johnson wäre nicht Boris Johnson, wenn das Thema, das ihn am meisten in Bedrängnis bringt, seriös politisch wäre.

Zwischendurch hatte es so ausgesehen, als sei die Partygate-Saga vorbei, doch das stellt sich nun als Irrtum heraus. Partygate kommt gerade erst so richtig in Schwung. Seitdem die Beamtin Sue Gray ihren vernichtenden Report veröffentlicht hat, nimmt die Zahl der Kritiker Johnsons aus den eigenen Reihen beständig zu. Nach aktueller Zählung haben 30 Abgeordnete der Konservativen Johnsons Rücktritt gefordert, weitaus mehr haben ihn öffentlich kritisiert. Für Johnson dürfte dabei besonders besorgniserregend sein, dass die Kritiker aus praktisch allen Lagern der Tories kommen, darunter selbst treue Brexiteers. Ob die kritische Masse von 54 Abgeordneten, die schriftlich ein Misstrauensvotum beantragen müssen, um es auszulösen, bereits erreicht ist, weiß nur Graham Brady, der Vorsitzende des für das Sammeln jener Briefe zuständigen 1922-Komitees. Erwartet wird, dass Brady selbst dann frühestens kommende Woche an die Öffentlichkeit gehen würde. Niemand will die 70-Jahr-Feier der Queen stören, schon gar nicht wollen es die Konservativen.

Das spekulative Briefezählen ist wieder zur Lieblingsbeschäftigung der Politikjournalisten in Westminster geworden, es gibt sogar Excel-Tabellen, auf denen vermerkt ist, wer aufgrund einer nur geringen Mehrheit im eigenen Wahlkreis als Briefeschreiber infrage kommen könnte. Die nächsten Wahlen kommen bald, am 23. Juni finden in Wakefield sowie in Tiverton and Honiton Nachwahlen statt, weil die dortigen Tory-Abgeordneten zurücktreten mussten. Imran Ahmad Khan, der Abgeordnete für Wakefield, wurde der sexuellen Nötigung eines 15-Jährigen für schuldig befunden, und Neil Parish, der Abgeordnete für Tiverton and Honiton, wurde dabei erwischt, wie er im Unterhaus auf seinem Smartphone Pornos schaute, zweimal. In beiden Wahlkreisen gilt es als wahrscheinlich, dass die Konservativen verlieren.

Die Rückkehr zum Imperialmaß - für Johnson Symbol für die Befreiung vom EU-Joch

Um das zu verhindern, erlässt Johnson allerlei Maßnahmen, mit denen er glaubt, seine Wähler befrieden zu können. Besonders öffentlichkeitswirksam ist die Rückkehr zum Imperialmaß: Offiziell seit Freitag soll die Krone als Kennzeichnung auf Pint-Gläsern statt der in der EU üblichen Kennzeichnung "CE" wieder erlaubt werden, zusätzlich wurde eine Untersuchung in Auftrag gegeben, ob eine gänzliche Rückkehr zu den alten Maßeinheiten möglich wäre, sie läuft bis 26. August. Die Krone auf dem Bierglas ist für Johnson ein Symbol für die Befreiung aus der EU-Geiselnahme, aber nicht allen gefällt das. Stuart Rose, Chef von Asda, einer der größten Supermarktketten des Landes, und als Tory adliges Mitglied des Oberhauses, sagte am Donnerstag im Times-Radio: Maßnahmen einzuführen, die derart rückwärtsgewandt sind und mitten in einer Krise auch noch Geld kosten, sei "gewaltiger Blödsinn". Ja, "ich habe in meinem Leben noch nie so einen Unsinn gehört".

Was die Trägerin der Krone, die Queen, davon hält, ist nicht bekannt. Ihre Beziehung zu Johnson allerdings ist ohnehin nicht die beste. Seit Beginn der Pandemie finden die Treffen zwischen Monarchin und Premierminister nur noch virtuell statt. Im Königreich gelten derlei Maßnahmen schon seit vielen Monaten nicht mehr, eine Rückkehr zu persönlichen und damit zeitintensiveren Treffen aber, hieß es vor einiger Zeit aus dem Palast, sei nicht zu erwarten.

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